Katherine Neville - Das Montglane-Spiel
bald vor Ungeduld und Wut. Ich versuchte es mit dem ersten Buchstaben der ersten Zeile und dem zweiten Buchstaben dar zweiten Zeile usw., und das führte zu 'jbniithdl'. Nichts schien zu funktionieren. Ich trank noch ein Glas Brandy und machte etwa in der Art eine Stunde weiter.
Es war beinahe halb vier am Morgen, als ich auf die Idee kam, es mit Ungeraden und geraden Zahlen zu versuchen. Als ich die ungeraden Buchstaben jeder Zeile notierte, traf ich endlich ins Schwarze, das heißt, ich fand so etwas wie ein Wort: „JEREMIASH“. Es war nicht nur ein Wort, sondern ein Name. Ich suchte unter meinen Büchern, bis ich endlich eine Bibel fand. Ich schlug das Inhaltsverzeichnis auf und fand dort unter „Altes Testament“: „Der Prophet Jeremias“. Aber mein Wort lautete: „Jeremias-H“. Was sollte das -H“ bedeuten? Ich dachte einen Augenblick nach, dann kam ich darauf, daß „H- der achte Buchstabe im Alphabet ist. Was nun?
Ein Blick auf den Text zeigte mir, daß in der achten Zeile stand: „Kämpf um das Geheimste, die Dreiunddreißigunddrei, bis zum Tod.“ Natürlich klang das nach einem Hinweis auf Kapitel und Vers.
Ich schlug also Jeremias 33,3 nach. Geschafft!
Rufe mich an, so will ich dir antworten und dir Großes, Unfaßbares kundtun, Dinge, die du nicht weißt.
Ich hatte mich nicht geirrt. In dem Text steckte noch eine verborgene Botschaft. Leider konnte ich mit dieser Botschaft wenig anfangen. Wenn die komische Alte mir ‘Großes und Unfaßbares’ kundtun wollte, warum tat sie es nicht?
Immerhin war es ermutigend, daß jemand wie ich, der es nie gelungen war, ein Kreuzworträtsel der New York Times zu lösen, plötzlich Prophezeiungen enträtselte, die auf einer Papierserviette standen. Andererseits frustrierte und ärgerte mich das alles. Mit jeder tieferen Schicht, die ich entschleierte, schien eine neue Bedeutung sichtbar zu werden, das heißt, ich fand Worte, die eine Botschaft enthielten, aber die Botschaften führten ins Leere oder vielmehr zu neuen Botschaften.
Ich seufzte, starrte auf das verdammte Gedicht, leerte mein Glas und beschloß, es noch einmal zu versuchen. Was es auch sein mochte, es mußte in dem Gedicht verborgen sein.
Um fünf Uhr morgens kam ich endlich auf die Idee, daß ich vielleicht nicht mehr nach Buchstabenkombinationen suchen sollte. Möglicherweise stand die Botschaft in Worten in dem Text wie auf Solarins Nachricht. Und als mir dieser Gedanke kam - vielleicht half auch das dritte Glas Brandy -, fiel mein Blick auf den ersten Satz der Prophezeiung.
Ja, diese Linien sind ein Schachbrett, sind ein Code ... Bei diesen Worten hatte die Wahrsagerin auf die Linien in meiner Hand geblickt. Mein Gehirn qualmte. Gut, also die Linien - die „Linien“ in dem Gedicht waren die „Verse“. Waren die Verszeilen an sich der Code?
Ich nahm mir das Gedicht noch einmal vor und schwor, es sollte das letzte Mal sein. Wo steckte der Code? Inzwischen war ich der Ansicht, ich müsse die geheimnisvollen Anspielungen wörtlich nehmen. Die Wahrsagerin hatte gesagt, die Verse seien ein Code wie das Reimschema auch, das addiert die „666“ ergab, die Zahl des Tiers in der Apokalypse.
Man kann kaum behaupten, es sei ein Geistesblitz gewesen, nachdem ich mich fünf Stunden mit diesem verrückten Text beschäftigt hatte. Aber genau dieses Gefühl hatte ich plötzlich. Ich wußte mit einer Sicherheit, die ganz im Gegensatz zu meiner Übermüdung und der von Alkohol vernebelten Vernunft stand: Das ist die Antwort.
Das Reimschema ergab addiert nicht nur die Zahl 666. Es war auch der Code zu der verschlüsselten Botschaft.
Das Blatt mit dem Gedicht war inzwischen mit Notizen übersät; ich nahm ein neues Blatt, schrieb das Gedicht noch einmal ab und das Reimschema 1-2-3, 2-3-1- 3-1-2 daneben. Ich wählte in jeder Zeile das zur Zahl korrespondierende Wort. Die Botschaft lautete: JA-SOWIE-EIN-SPIEL-BRENNT-DER-KAMPF-EWIG.
Und mit der unerschütterlichen Sicherheit, die mir mein alkoholisierter Brummschädel gab, wußte ich genau, was das bedeutete: Hatte mir Solarin nicht gesagt, wir spielten ein Schachspiel? Aber die Wahrsagerin hatte mich bereits vor drei Monaten gewarnt.
J'adoube. Ich berühre dich, ich rücke dich zurecht, Katharine Velis. Rufe mich an, so will ich dir antworten und dir Großes, Unfaßbares kundtun. Dinge, die du nicht weißt. Denn es ist ein Kampf um Leben und Tod, und du bist in dem Spiel ein Bauer. Eine Figur auf dem Schachbrett des Lebens...
Ich lächelte, streckte
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