Katrin Sandmann 03 - Wintermärchen
seinen Augen immer wieder der Anblick des völlig zerstörten Wagens auf, und er fragte sich, was wohl aus dem Fahrer geworden war.
3
Manfred erwachte von dem Pochen in seinem Schädel. Er blinzelte. Es war grauenhaft hell draußen – und das am siebzehnten Dezember. Es war bestimmt schon mindestens zehn Uhr. Er drehte sich auf die andere Seite, damit ihn das Tageslicht nicht blendete. Vorsichtig öffnete er ein Auge und schielte in Richtung Uhr. Die digitale Anzeige strahlte in leuchtendem Rot. 10:23 Uhr. Er stöhnte und grub sein Gesicht ins Kissen. Dann fiel ihm der gestrige Abend wieder ein. Die Kneipe. Katrin war nicht mehr nachgekommen. Dafür hatte er auf dem Heimweg auf seinem Handy eine Nachricht entdeckt, die sie ihm bereits gegen neun Uhr geschickt hatte: »Bin übers Wochenende verreist. Brauche ein bisschen Abstand. Bitte ruf nicht an. Katrin.«
Er hatte die Nachricht wieder und wieder gelesen, aber er konnte sich einfach keinen Reim darauf machen. Erst war er verwirrt gewesen, dann besorgt, und schließlich nur noch wütend. Ihm so etwas auf diesem Weg mitzuteilen! Und was sollte das Ganze überhaupt? Womöglich hatte Gudrun doch recht, und Katrin war eifersüchtig. Aber war das die richtige Art, damit umzugehen? Das war doch total kindisch. Er hatte sich furchtbar aufgeregt, und Gudrun hatte ihn beruhigt und überredet, vom Büdchen noch ein paar Flaschen Alt mitzunehmen. Die hatten sie dann auf der Wohnzimmercouch geleert. Sie hatten schweigend dagesessen, aus den Boxen dröhnte Musik, und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Bis alle Flaschen leer waren. Irgendwann gegen zwei. Was für ein Abend!
Manfred öffnete die Augen erneut und bewegte vorsichtig den Kopf. Ein höllischer Schmerz fuhr ihm durch die Schläfen und donnerte gegen seine Schädeldecke. Er biss die Zähne zusammen und kroch aus dem Bett. Auf dem Weg ins Bad kam er an der Wohnzimmercouch vorbei, auf der Gudrun lag und laut schnarchte. Er grinste und marschierte tapfer weiter.
Er fand die Aspirintabletten nicht sofort. Er hatte lange keine mehr gebraucht. Ein kurzer Blick auf die Packung verriet ihm, dass sie zwei Monate zuvor abgelaufen waren. Er zuckte die Achseln, drückte zwei Tabletten aus dem Päckchen auf seine Handfläche, warf sie in den Mund und schluckte. Dann hängte er sich unter den Wasserhahn und trank eine volle Minute lang ohne abzusetzen.
Erst jetzt wagte er einen Blick in den Spiegel. Er streckte dem zerknautschten Gesicht die Zunge heraus und wandte sich ab.
Manfred brauchte einen Moment, bis er sich erinnerte, dass er das Handy am Abend zuvor in den Kühlschrank gepfeffert hatte. Das Bücken jagte ihm ein höllisches Stechen durch die Schläfen und er fluchte leise. Zuerst entdeckte er nichts, und er dachte schon, dass seine Erinnerung ihn trog, aber dann fand er das Telefon im Gemüsefach. Es war eiskalt.
Hoffentlich funktionierte es noch! Er setzte sich an den Küchentisch. Brotkrümel und eingetrocknete braune Kaffeekränze bildeten ein schmuddeliges Muster und erinnerten ihn daran, dass er seit Längerem nicht mehr darübergewischt hatte. Er schüttelte sich. Er war nicht besonders ordentlich, aber er war sauber. So sah sein Tisch normalerweise nicht aus. Es war verrückt. Jedes Mal, wenn Gudrun ihn besuchte, verfiel er zurück in die Gewohnheiten seines Studentenlebens. Er machte die Nächte durch, trank zuviel, und seine Wohnung sah schon nach wenigen Tagen dem winzigen, vergammelten Zimmer zum Verwechseln ähnlich, das er während seines Studiums bewohnt hatte. Damals hatte es ihn überhaupt nicht interessiert, wie er wohnte. Ordnung erinnerte ihn viel zu sehr an seine Kindheit. Er war in einem kleinen Städtchen in der Nordeifel
aufgewachsen, in dem es weder ein Kino noch eine Disco gab und wo man sich für ein wenig Abwechslung aufs Mofa setzen und in die nächste Stadt fahren musste. Jeden Samstagvormittag hatte er sein Zimmer gründlich aufräumen müssen. Sein Vater war dann vor dem Mittagessen hereingekommen und hatte alles genau inspiziert. Wenn er zufrieden war, gab es das Taschengeld für die kommende Woche und die Erlaubnis, abends auszugehen. Aber nur dann.
Manfred tippte auf dem Handy herum, aber er fand die Nachricht nicht mehr. Verdammt! Er erinnerte sich doch ganz genau. Er konnte sie auswendig. »Brauche ein bisschen Abstand.« Abstand! Abstand wovon? Von ihm? Und was bitte ist ein ›bisschen Abstand‹?!
Er spürte, wie die Wut wieder in ihm hoch kochte, und stand abrupt vom
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