Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)
gehaltenen Raum, in dem man ungestört
reden konnte.
Dürst hatte
die telefonische Meldung sofort an die Zentrale weitergeleitet, und inzwischen waren
alle Streifenwagen wohl schon informiert, dass in Seebach ein Säugling verschwunden
war. Genaueres hatte Dürst nicht erfahren, der Vater hatte sich am Telefon kurz
gehalten.
Seine Hände
zitterten, wie er Dürst nun im Anzeigenzimmer gegenübersaß.
»Es ist
ein Mädchen, sagten Sie«, begann Dürst.
»Ja. Luzia.
Vier Monate alt.« Er riss sich zusammen und gab dem Polizisten einigermaßen zusammenhängend
weiter, was Nadine ihm erzählt hatte.
»Könnte
das Mädchen entführt worden sein?«, fragte Dürst.
Stefan Attinger
schüttelte den Kopf. »Kaum. Wir sind nicht reich. Bei uns ist kein großes Lösegeld
zu holen.«
Dürst tat
der Mann leid. »Schauen Sie, es ist schon vorgekommen, dass Frauen, die kein Kind
haben, sich aber eines wünschen, sich so darauf fixieren, dass sie ein Baby stehlen.
Falls es in Ihrem Fall so ist, wird Ihrer Tochter sicher nichts geschehen, und wir
werden sie finden.«
Wieder schüttelte
Stefan den Kopf. »Ich glaube nicht, dass unser Baby jemand stiehlt«, sagte er gepresst.
»Es ist nicht … es ist … es sieht nicht so aus wie andere Kinder.«
»Ist es
behindert?«, fragte Dürst.
»Nein, eigentlich
nicht. Es ist … es hat nur einen … Gendefekt.« Er sah am Polizisten vorbei.
»Sie müssen
mir schon sagen, wie das Kind aussieht.«
»Es hat
eine Hypertrichose«, brachte Stefan heraus. »Ambras-Syndrom.«
»Und was
ist das?«
»Es ist
… es hat … also, es hat Haare am ganzen Körper. Dichte Haare.«
Dürst lehnte
sich zurück. »Haare? Am ganzen Körper? An den Armen? Den Beinen? Im Gesicht?«
Stefan nickte.
Mein Gott,
dachte Dürst. »Haben Sie ein Foto?«
»Nein, das
heißt ja, aber auf dem Foto ist es rasiert.«
Rasiert.
Dürst schluckte. »Aber heute Morgen war es nicht rasiert, als es verschwunden ist?«
»Nein, heute
Morgen nicht.«
»Wir sind
bereits daran, Ihr Baby zu suchen«, versicherte Dürst. »Die Meldung ist schon raus.
Haben Sie irgendeinen Verdacht, wer es genommen haben könnte?«
»Nein, gar
keinen.«
Es klopfte.
Ein junger Polizist schaute herein. »Könnten Sie bitte rasch –«, wandte er sich
an Dürst. Dieser machte eine abwehrende Handbewegung. »Es ist wichtig«, insistierte
der Beamte.
»Entschuldigen
Sie mich einen Augenblick«, bat er Attinger und ging hinaus.
Stefan starrte
auf die helle Tischplatte, auf den grauen Linoleumboden, auf das vergitterte Fenster.
Er fühlte sich wie gelähmt. Das ist kein Alptraum, sagte er sich, das ist die Realität.
Dieser kleine Raum, in dem ich über das Verschwinden meiner Tochter spreche. Er
hätte nicht sagen können, wie lange er da saß. Eine Minute? Eine Stunde? Hundert
Jahre?
Der Polizist
kam zurück. Setzte sich wieder ihm gegenüber. Sagte einen Moment nichts.
»Herr Attinger«,
hob er dann an, »es ist ein kleines Mädchen gefunden worden, auf das Ihre Beschreibung
passt.«
Stefan starrte
ihn an.
»Es ist
tot. Es tut mir sehr leid.«
Gefunden?
Tot? »Wo?«, flüsterte er. »Warum tot?«
»Eine Spaziergängerin
hat im Katzenbach ein wenige Monate altes Baby entdeckt, dessen Körper mit Haaren
bedeckt ist. Es war schon tot, als sie es fand.«
Stefan schlug
die Hände vors Gesicht.
Am Katzenbach war die erste Ermittlungsarbeit
in Gang gekommen. Staatsanwalt Welti war vor Ort, eine Gerichtsmedizinerin, Katja
Keller, Beat Streiff von der Kriminalpolizei und ein paar Leute vom Kriminaltechnischen
Dienst, die die Umgebung nach irgendwelchen Spuren, Fußabdrücken, Fasern, Zigarettenstummeln
oder verlorenen Gegenständen absuchten und Fotos von der Leiche und vom Fundort
machten. Das Gebiet um den Fundort der Leiche war abgesperrt, Spaziergänger wurden
weggeschickt.
Valerie
Gut hatte ihre Aussage gemacht. Katja Keller hatte sie gefragt, ob sie mit einem
Polizeipsychologen sprechen wolle, aber sie hatte abgelehnt. Sie wollte nur nach
Hause. Beat würde in den nächsten Stunden keine Zeit haben für sie, das war klar.
Er hatte versprochen, sie abends anzurufen. Sie warf einen letzten Blick auf das
tote kleine Mädchen und schlich mit Seppli davon. Vor einer Stunde war noch Sommer
gewesen, ein heller, heiterer Tag. Jetzt empfand sie die Hitze als drückend, die
Sonne als grell, den Tag, der vor ihr lag, als sinnlos.
»Wahrscheinlich
ist es ertrunken«, meinte Katja Keller nach einer ersten flüchtigen Untersuchung.
Verletzungen
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