Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)
unbedeutend zu sein. Und
davor haben wir kapituliert, dachte er fassungslos. Was sind wir für Eltern, was
sind wir für eine Familie. Entsetzen vor sich selber drohte ihn zu überschwemmen.
In einem verzweifelten Kraftakt drängte er diese Erkenntnis beiseite.
»Ja, es
ist Luzia«, sagte er, zur Rechtsmedizinerin gewandt. Er ließ sich hinausführen.
Auch Beat Streiff hatte der Anblick
des toten Babys mitgenommen. Er war Mitte fünfzig, fast dreißig Jahre bei der Kriminalpolizei
Zürich und hatte schon vieles gesehen. Gewalt, Elend, Leid, schlimm zugerichtete
Leichen, auch getötete Kinder. Kalt ließ ihn das alles nicht, er war kein zynischer
Mensch geworden, aber er hatte Strategien entwickelt, sich abzugrenzen, professionell
mit solchen Situationen umzugehen. Er war dem Schrecken nicht wehrlos ausgesetzt,
sondern er nahm sofort Details wahr, die vielleicht bei der Aufklärung helfen konnten:
Wie lag eine Person da, wie sah die Wunde aus – eine Vielzahl von Kleinigkeiten
fielen ihm auf. Belastender als der Anblick eines Mordopfers war es für Streiff,
wenn er den Angehörigen die Nachricht vom Tod des Mannes, der Tochter oder des Bruders
überbringen musste, wenn er sich Menschen gegenübersah, die keine Distanz, keinen
Schutz hatten, sondern völlig unvorbereitet von der schrecklichen Botschaft getroffen
wurden. Er kam auch damit zurecht, aber solche Szenen verfolgten ihn manchmal, erschienen
vor ihm, wenn er spätabends in seiner Küche saß und endlich hätte abschalten können.
Dann sah er die ungläubigen, entsetzten Gesichter vor sich, starr vor Schreck oder
tränenüberströmt oder von einer sinnlosen Wut ergriffen. Schon oft hatte er den
Augenblick miterlebt, in dem für jemanden die Welt zusammengebrochen war, das Leben
eine furchtbare Wende genommen hatte.
Dennoch,
Streiff liebte seine Arbeit und er war ein guter Ermittler. Er hatte lange nicht
recht gewusst, was er beruflich machen sollte, hatte ein paar Semester Jura studiert,
dann längere Zeit als Judolehrer gearbeitet. Dass er schließlich bei der Polizei
gelandet war, hatte er nie bereut, auch wenn er sich anfangs in seinem Freundeskreis
dafür rechtfertigen musste und eine Beziehung daran gescheitert war. Nach der Polizeischule
war er ein paar Jahre Streife gefahren, hatte dann den Kripo-Einführungskurs gemacht.
Zuerst war er auf der Regionalwache Wiedikon Revierdetektiv gewesen, dann hatte
er sich bei der Fachgruppe Gewaltdelikte beworben. Er liebte es, dort zu arbeiten,
wo das Leben nicht seinen geordneten Gang ging, sondern in Unruhe geriet. Es gefiel
ihm aber auch, dass er selbst nicht ein Element des Chaos war, sondern eines, das
dagegen einschritt, das die Ordnung wiederherstellte – und vielleicht die Gerechtigkeit?
Gerechtigkeit, das war ein großes Wort und Streiff benutzte es selten. Aber er war
doch davon überzeugt, dass seine Arbeit manchmal ein Stück Gerechtigkeit herstellte.
Er hatte
das Valerie gegenüber einmal so formuliert, und es hatte ihn sehr gefreut, dass
sie nicht spöttisch darauf reagiert hatte, sondern ihn verstanden hatte. Sie hatte
es ganz pragmatisch gesehen: Wer ein Verbrechen begeht, muss dafür bestraft werden,
damit die gesellschaftlichen Übereinkünfte des Zusammenlebens nicht aus den Fugen
geraten und damit die Opfer des Verbrechens, die durch die Tat aus der Gemeinschaft
hinausgestoßen worden sind, sich von der Gesellschaft wieder aufgenommen fühlen.
Ja, ungefähr so sah er es auch. Valerie. Er wäre kaum mit ihr zusammen, wenn er
nicht Polizist geworden wäre. Vor sechs Jahren waren sie zusammengekommen, als in
ihrem Fahrradgeschäft FahrGut ein Tötungsdelikt begangen worden war, in dem er ermittelt
hatte. An sich kein romantischer Anlass, aber nach Abschluss des Falls hatte er
sich ins Zeug gelegt, um ein bisschen Romantik in die Geschichte zu bringen, und
seine Umwerbung hatte Valerie, die ihrerseits auch schon ein paar Hintergedanken
gehegt hatte, überzeugt. Auch nach sechs Jahren war ihnen nie langweilig miteinander.
Manchmal stritten sie sich, Valerie hatte ein hitziges Temperament, aber meist verstanden
sie sich gut.
Und jetzt
hatte sie dieses Baby gefunden. Sie war ganz erschüttert gewesen, er würde sich
heute Abend um sie kümmern. Auch ihn hatte der Anblick bewegt. Ein hilfloses, wehrloses
Geschöpf war es, aber gleichzeitig auch ein Wesen, das nicht Fürsorglichkeit, Beschützergefühle,
sondern zuerst einmal Befremden, wenn nicht Schrecken und Abneigung auslöste. Es
hatte
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