Katzenbach: Kriminalroman (German Edition)
wies es keine auf. »Aber ich werde es in der Rechtsmedizin noch genauer
anschauen müssen.«
»Was hatte
es denn?«, fragte Welti, »warum sieht es so aus?«
»Keine Ahnung,
ich habe das noch nie gesehen. Das muss ich erst recherchieren. Ich melde mich.«
Sie gab
das Zeichen zum Aufbruch.
Die Leute
von der Spurensuche waren nicht fündig geworden.
»Das Kind
ist vermutlich nicht hier ins Wasser gefallen oder geworfen worden, sondern weiter
oben, und den Bach hinuntergetrieben«, überlegte Welti. Streiff stimmte ihm zu.
Sein Telefon klingelte.
»Es gibt
eine Vermisstenanzeige«, meldete er dann. »Eine Familie Attinger, die wohnen da
ein paar Hundert Meter weiter oben. Die Beschreibung passt. Ein vier Monate altes
Mädchen. Und sein Körper ist mit Haaren bedeckt. Der Vater ist auf der Regionalwache
Oerlikon. Ich fahre mal hin.«
Stefan blickte auf den kleinen Körper
seiner Tochter.
In der letzten
Stunde war ihm, so kam es ihm vor, sein Leben völlig aus der Hand genommen worden.
Er war zu einem Objekt geworden, über das andere bestimmten. Andere, die ihn besorgt
musterten, sich abwandten und telefonierten, sodass er nicht mitbekam, was gesprochen
wurde, ihm behutsame Vorschläge machten, die er befolgte. Es war vor allem dieser
Umgang mit ihm, der ihn empfinden ließ, dass etwas Furchtbares geschehen war. Dass
Luzia tot war, war noch nicht wirklich zu ihm durchgedrungen. Dürst hatte ihm einen
Kaffee angeboten, während sie auf einen Kriminalbeamten warteten, der eine Viertelstunde
später eintraf und sich als Beat Streiff vorgestellt hatte. Stefan hatte verstanden,
dass er mit diesem Polizisten in die Rechtsmedizin fahren und dort das Baby sehen
würde, das gefunden worden war.
»Möchten
Sie jemanden anrufen?«, hatte Streiff vorgeschlagen. »Vielleicht Ihre Frau?«
Nadine?
Nein, Nadine war allein, er durfte ihr das nicht einfach am Telefon sagen, das würde
sie nicht aushalten.
»Ich rufe
meinen Schwager an«, hatte er gesagt, »er soll zu meiner Frau fahren.«
Er hatte
Leon sofort erreicht. Er hatte sich darüber gewundert, dass er dazu imstande war,
ihm die Situation zu erklären. Leon hatte sich sofort bereitgefunden, zu Nadine
und Lotte zu fahren. Er arbeitete in einem angrenzenden Stadtviertel, in Schwamendingen,
und konnte seine Mittagspause etwas vorverlegen.
Dann hatte
Stefan seine Frau angerufen. »Leon wird gleich bei euch sein«, hatte er als Erstes
gesagt. »Bei mir dauert es etwas.«
»Was ist
los?«, hatte Nadine geschrien.
»Sie haben
ein kleines Mädchen gefunden. Es ist nicht ganz sicher, ob es Luzia ist. Es ist
im Spital«, log Stefan, »sie fahren mich hin.« Erschöpft legte er auf.
Der Polizist
hatte ihn angeschaut.
»Meine Frau,
sie ist, ich meine, sie ist nicht … sehr robust, seelisch«, hatte Stefan seine Lüge
zu erklären versucht. »Es ist ja noch nicht sicher, dass das Baby unser Kind ist.
Man muss sie ja nicht unnötig … beunruhigen.« Er hatte abgebrochen. Er wusste genau,
dass es kein Baby gab, das man mit Luzia hätte verwechseln können.
Streiff
hatte genickt. »Kommen Sie, wir fahren.«
Sie waren
quer durch die Stadt gefahren bis zum Institut für Rechtsmedizin an der Rämistrasse.
Stefan hätte nicht sagen können, wie lange die Fahrt dauerte, eine Fahrt durch eine
ganz fremde Stadt, die ihn ausgestoßen hatte, zu deren Alltagsleben er nicht mehr
gehörte. Irgendwann hatte der Wagen gestoppt, Stefan war ausgestiegen, weil man
ihn geheißen hatte, er war dem Polizeibeamten nachgegangen in das Gebäude, war eingetreten
in eine Welt von unheimlichen, kalten, bedrückenden Gerüchen nach scharfen Chemikalien.
Er hatte eine Weile warten müssen, bis ihn die Rechtsmedizinerin holte und in den
Raum führte, in dem das Baby lag.
Jetzt stand
er vor Luzia. Die Gerüche nahm er nicht mehr wahr. Luzia lag in einem Obduktionssaal,
einem kühlen Raum, auf einer Liege. Man hatte ein Tuch unter sie gelegt. Die ganze
Anspannung der letzten vier Monate, die Angst vor der Zukunft, das Gefühl, dass
die Familie an diesem Kind scheitern würde, verwandelten sich in diesem Moment in
Leid, Reue und Schuldgefühle. Klein und nackt lag sie da, Luzia, war nur noch als
Körper vorhanden, nicht mehr als kleiner Mensch. Wir haben dich nicht beschützt,
dachte Stefan, wir haben es nicht geschafft, dich anzunehmen. Wir haben dich lieb
gehabt, und doch haben wir es nicht geschafft, glücklich zu sein. Ihre Behaarung
schien ihm angesichts ihres Todes plötzlich vollkommen
Weitere Kostenlose Bücher