Katzenmond
die Zeit nehme, mich vorzustellen, sollte ich wohl als Erstes erklären, dass ich das manchmal nicht ganz genau weiß. Klar, ich bin Delilah D’Artigo, ein Doppelwerwesen: Ich kann zwei verschiedene Tiergestalten annehmen, einmal die eines langhaarigen Tigerkätzchens, das sich gern in Schwierigkeiten bringt, und zum anderen die eines schwarzen Panthers, dem der Herbstkönig gebietet. Nicht, dass ich unter Gedächtnisverlust leiden würde oder so, aber im vergangenen Jahr habe ich mich so schnell verändert, dass ich kaum mehr zu Atem komme. Manchmal betrachte ich mich im Spiegel und frage mich, wer mir daraus entgegenschaut.
Eine dieser Veränderungen ist meine Erwählung zur Todesmaid – als derzeit einzige Lebende. Die meisten Diener des Herbstkönigs sind tot, und er versammelt ihre Seelen in Haseofon, aber ich arbeite für ihn, obwohl ich noch lebe. Und eines Tages, das hat er mir versprochen, werde ich durch meinen Liebhaber Shade
sein
Kind gebären. Wie und wann das geschehen soll, weiß ich nicht, aber es ist meine Bestimmung, und ich glaube an das Schicksal.
Der Eintritt in den Dienst des Herbstkönigs war anfangs schwer für mich. Als meine Schwestern und ich vor ein paar Jahren in die Erdwelt kamen, war ich noch ziemlich naiv. Ich glaubte an das Gute im Menschen und so weiter. Inzwischen – tja, ich bin immer noch Optimistin, aber die rosarote Brille hab ich irgendwo unterwegs verloren. Ich gehe nicht mehr automatisch bei jedem, der mir begegnet, vom Besten aus. Heute widme ich mich meiner Pflicht von ganzem Herzen und fühle mich geehrt, den Titel Todesmaid zu tragen.
Zusammen mit meinen Schwestern Camille, einer verflucht guten Hexe und Priesterin der Mondmutter, und Menolly, einer Jian-tu-Akrobatin und Spionin, die zur Vampirin gemacht wurde, kam ich damals aus der Anderwelt herüber. Wir standen im Dienst des AND – des Anderwelt-Nachrichtendienstes –, und nachdem die Portale, die unsere getrennten Welten miteinander verbinden, wieder geöffnet wurden, versetzte man uns in die Erdwelt.
Anfangs empfingen die Menschen hier ihre magischen Brüder und Schwestern mit offenen Armen. Vor langer Zeit waren die beiden Welten eine, und diese Wiedervereinigung rührte die Herzen der meisten Erdwelt-Bewohner. Doch inzwischen war der Reiz des Neuen verflogen, VBM und ÜW s – übernatürliche Wesen – hatten immer mehr miteinander zu tun, und Hetze und rassistische Übergriffe nahmen stetig zu.
Unsere Mutter war menschlich – sie ist schon lange tot –, und unser Vater gehört zum Feenvolk. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs war Sephreh in geheimer Mission erdseits, und so begegneten und verliebten sie sich. Nach einer stürmischen Romanze brachte er sie mit zurück in die Anderwelt. Mutters Tod war ein schwerer Schlag für unsere Familie. Vaters Unterstützung zu verlieren, war fast noch schlimmer. Doch er hatte sich von Camille abgewandt, also hatten auch wir ihm den Rücken zugekehrt.
Wir haben beim AND gekündigt und unserem Vater gesagt, dass wir den Dienst erst wieder antreten würden, wenn er sich mit Camilles Aufnahme am Hof einer der Erdwelt-Feenköniginnen abfindet. Jetzt sind wir also ganz allein und stellen uns nach wie vor dem Dämonenfürsten Schattenschwinge entgegen, der die Erde und die Anderwelt zu seinem Privatvergnügen verwüsten will.
Er hat es auf die Geistsiegel abgesehen, und hinter denen sind auch wir her. Ursprünglich war es nur ein Siegel – ein Artefakt, das nach der großen Spaltung geschaffen wurde, als die großen Feenherrscher die Welten entzweirissen. Sie erschufen das Siegel, um Anderwelt, Erdwelt und Unterirdische Reiche voneinander getrennt zu halten. Dann zerbrachen sie es in neun Stücke, die sie an die Elementarfürsten verteilten, damit sie verborgen blieben. Auch einzeln haben die neun Siegel die Welten voreinander geschützt. Wenn sie wieder zusammengefügt werden, können sie sämtliche Grenzen niederreißen.
Aber manchmal laufen die Dinge eben nicht nach Wunsch. Die lange verborgenen Siegel tauchten irgendwann wieder auf. Und erregten die Aufmerksamkeit von Schattenschwinge. Da kommen wir ins Spiel. Wir stolperten in ein Wettrennen um die Siegel hinein, die wir finden müssen, ehe der Dämonenfürst sie in die Finger bekommt. Eines hat er uns gestohlen, ehe wir es in Sicherheit bringen konnten. Fünf haben wir gefunden. Bisher steht es also vier zu eins für uns, aber dass er auch nur eines der Siegel besitzt, ist gefährlich für alles und
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