Kehraus fuer eine Leiche
Angst vor einer festen Bindung gesprochen, vor jeglichem Scheitern. Vor einer Nähe, die mich ersticken und verschlucken könnte, wenn von mir nur noch die Hälfte übrigbliebe, wie das wohl so ist, wenn man das berühmte Eins würde. Angst vor dem Alleinsein sei mir völlig unverständlich. Ich zittere bei dem Gedanken, einer Symbiose anzugehören, die mich auf die Rolle von Ameise oder Blattlaus festlegt. Oder auf die eines Parasiten im Korallenriff. Ich gestand, Kurt Tucholskys Zitat »Was gestrichen ist, kann nicht durchfallen« auf mein ganzes Leben bezogen zu haben. Bis ich in die Eifel kam. Bis ich ihm, Marcel, begegnet sei. Da hätte ich mich auf ein Abenteuer mit völlig unabsehbarem Ausgang eingelassen. Nicht auf das Restaurant; das könne ich jederzeit abstoßen. Den Mann hingegen nicht. Nicht mehr.
»Das Herz hat ein Ziel«, sagte ich, »aber leider keinen Verstand.« Von dem ließe ich mich lieber beherrschen. Ein Bauchgefühl akzeptierte ich nur beim Kochen oder bei der Lösung eines Mordfalles; in Herzensangelegenheiten verursache es bei mir Durchfall. Auf mich selbst könne ich mich jederzeit verlassen. Ich würde mich verlassen fühlen, wenn ich diese Kontrolle abgäbe. Marcel hat sich mein schnell hervorgesprudeltes Bekenntnis angehört. Ohne Zwischenkommentare.
Ganz zum Schluss sagte er in aller Ruhe: »Ich werde dich immer lassen und nie verlassen.«
Bei chronischen Krankheiten gibt es ominöse Schübe, wie auch beim Erwachsen- und Altwerden. Man schaut in den Spiegel und entdeckt plötzlich, dass die Lider abgesunken sind. Über Nacht, ohne Alkohol und unwiderruflich, falls man der plastischen Chirurgie abgeneigt ist. Das Kind von nebenan, das gestern noch vor sich hinbrabbelte und ungelenk durch die Welt stapfte, weist plötzlich in angemesseneren Proportionen einen Kopf auf, mit dem man vernünftig reden kann. Wann ist das nur geschehen? Wie soll man mit der erschreckend neuen Situation umgehen? Wo die eigene Position einordnen? Weil es für die Wahrnehmung plötzlich auftretender unerklärlicher Wandlung keine einleuchtende Erklärung zu geben scheint, begründen wir sie mit Schüben. Alles ist mit einem Schlag, einem Blick oder einem Wort plötzlich gänzlich anders als gewohnt. Eine Herausforderung, die nicht immer schlecht sein muss. Das Verhältnis zwischen Marcel und mir hat in der gestrigen Nacht einen gewaltigen Schub bekommen. Weil ich Nähe zugelassen habe und er behutsam mit ihr umgegangen ist. Ich habe aufgehört, den Mann, der mir einen Heiratsantrag gemacht hat, als Widersacher zu betrachten, den ich mit meinem flotten Berliner Mundwerk bekämpfen oder dem ich zumindest den Rang ablaufen muss. Und so beginne ich, ein gewisses Verständnis für gefühlsgesteuerte Unsinnigkeiten zu entwickeln. Dass ich eins fürs Weglaufen habe, wenn es ungemütlich wird, habe ich in der Vergangenheit bewiesen. Ich bringe beides zusammen und beziehe es auf Pia:
»Irgendwo ist der schöne Steffen Meier dem Hühnermädchen über den Weg gelaufen«, sage ich. »Er ist ein Kenner, der den Liebreiz unter den ollen Klamotten und der dämlichen Frisur sofort erkannt hat.« Und mir zuvorgekommen ist, setze ich für mich hinzu; hatte ich selbst nicht auch überlegt, Pia den Weg aus ihrem offensichtlichen häuslichen Elend zu weisen? Ich hatte mich als Mäzenin einer vermarktbaren Schönheit gesehen. Wäre ich jetzt tot, wenn ich mich dieser Aufgabe gestellt hätte? Vor meinem geistigen Auge sehe ich mich mit dem Kopf im Eiterbach und meinem eigenen Santoku-Messer mitten im Herz. Ich schüttele mich.
»Was ist los?«, fragt Marcel. »Warum redest du nicht weiter?«
»So ein Mord ist sehr garstig«, flüstere ich.
»Daran gewöhnt man sich nie«, bestätigt Marcel. »Aber so weit bist du noch gar nicht. Du kannst ja aufhören zu erzählen, wenn es zu hässlich wird. Dann reime ich mir den Rest zusammen.«
Mit einem tiefen Atemzug schicke ich das Bild meiner Leiche in Körperregionen, die keine Phantasie haben.
»Sie beißt sofort an, als er sie zu einem Fotoshooting überredet«, fahre ich fort, »und sie bei der Agentur vorstellt, die auch ihn unter Vertrag hat. Weil sie so einmalig ist, kriegt sie sofort Aufträge. Wäre ich noch Moderedakteurin, würde ich sie sofort engagieren. Pia sieht das goldene Land von Freiheit und Luxus vor sich. Doch eine unüberwindbare Grenze versperrt ihr den Weg, ihr restriktives Elternhaus. Fürs Foto konnte sie einmal ausbüxen, ein zweites Mal bestimmt nicht. Herr
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