Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)
Silbe verraten wollen. Ich glaube, er ist mit seinem Briganten von Enkel nach Algier gegangen; denn Nepomuk, der eine Schwäche für den Dieb hatte und der auch nicht mehr wert ist als er, hat ihn nicht mehr in der Conciergerie vorgefunden, und er allein weiß, wo sie sind, der Schuft, der mich hier hat sitzen lassen... Da soll man noch Findelkinder aufziehen! Als Lohn lassen sie Einen in der Patsche sitzen. Ich habe noch keinen andern für ihn gefunden, und da die Gegend sehr in Aufnahme kommt, so ist das ganze Haus vermietet, und ich komme um vor Arbeit.«
Niemals hätte Gottfried etwas über den Baron Bourlac erfahren, hätte nicht diese Angelegenheit ihre Lösung infolge einer jener Begegnungen gefunden, wie sie in Paris vorkommen.
Es war im September, als Gottfried die große Avenue des Champs-Elysées entlang ging und dabei an den Doktor Halpersohn denken mußte, als er an der Rue Marbeuf vorbeikam.
»Ich müßte ihn eigentlich aufsuchen,« sagte er sich, »um zu hören, ob er die Tochter Bourlacs geheilt hat!... Was hatte sie für eine Stimme und für eine Begabung!... Und dabei wollte sie ins Kloster gehn!»
Als er an dem Rondell angelangt war, überquerte Gottfried es schnell wegen der Wagen, die eilig vorbeifuhren, und stieß in der Allee einen jungen Mann an, der eine Dame am Arm führte.
»Sehen Sie sich doch vor!» rief der junge Mann.
»Sind Sie denn blind?«
»Was, Sie sind es?« erwiederte Gottfried, der in dem jungen Manne August de Mergi erkannt hatte.
August war gut gekleidet, hübsch, elegant und stolz, daß er seinen Arm der Dame reichen durfte, die Gottfried ohne die Erinnerungen, die er wieder wach werden ließ, nicht wiedererkannt haben würde.
»Ach, das ist ja der gute Herr Gottfried«, sagte die Dame.
Als er den himmlischen Klang von Wandas entzückendem Organ vernahm und sie gehen sah, blieb Gottfried wie festgewurzelt liehen.
»Geheilt!« sagte er.
»Seit zehn Tagen darf ich gehen!...« erwiederte sie.
»Halpersohn? ...«
»Ja», sagte sie. »Aber warum haben Sie uns denn nicht besucht?« fuhr sie fort... »Oh, Sie haben Recht daran getan! Erst vor acht Tagen haben sie mir meine Haare abgeschnitten! Was Sie an mir sehen, ist eine Perücke; aber der Doktor hat mir heilig versichert, daß sie wieder wachsen werden!... Ach, was haben wir uns alles zu erzählen!... Kommen Sie doch zum Essen zu uns!... Oh, und Ihr Akkordeon!... Oh, lieber Herr...«
Und sie führte ihr Taschentuch an die Augen.
»Ich werde es mein Lebelang behalten! Und mein Sohn wird es wie eine Reliquie aufbewahren! Mein Vater hat in ganz Paris nach Ihnen geforscht; außerdem ist er auf der Suche nach seinen unbekannten Wohltätern; er würde vor Kummer sterben, wenn Sie ihm nicht helfen, sie zu finden... Eine düstere Melancholie nagt an ihm, deren ich nicht alle Tage Herr zu werden vermag.«
Ebenso von der Stimme der reizenden, dem Grabe entstiegenen Frau verführt, wie von brennender Neugierde verzehrt, bot Gottfried der Baronin de Mergi den Arm, die ihren Sohn vorausgehen ließ; sie hatte ihm durch einen Wink einen Auftrag erteilt, den der junge Mann wohl verstanden hatte.
»Ich entführe Sie, aber nicht weit weg, wir wohnen in der Allee d'Antin, in einem hübschen kleinen Hause in englischem Stil; wir bewohnen es ganz allein; jeder von uns hat ein Stockwerk für sich. Oh, es geht uns recht gut. Mein Vater ist der Ansicht, daß Sie eine große Rolle bei den Glücksfällen spielen, die uns in so reichem Maße zuteil geworden sind!...«
»Ich?...«
»Wissen Sie denn nicht, daß man für ihn infolge eines Berichtes des Unterrichtsministers einen Lehrstuhl für vergleichende Rechtswissenschaft an der Sorbonne geschaffen hat? Im nächsten November wird mein Vater seine erste Vorlesung halten. Das große Werk, an dem er arbeitete, erscheint in einem Monat; das Verlagshaus Cavalier gibt es heraus und teilt den Gewinn mit meinem Vater; als Vorschuß auf seinen Anteil hat es ihm dreißigtausend Franken ausgezahlt, daher konnte er auch das Haus, in dem wir jetzt wohnen, kaufen. Der Justizminister hat mir eine Pension von zwölfhundert Franken bewilligt, als jährliche Beihilfe für die Tochter eines ehemaligen Richters; mein Vater hat seine Pension von tausend Talern und fünftausend Franken als Professor. Wir leben so bescheiden, daß wir beinahe reich werden könnten. In zwei Monaten beginnt mein August sein Rechtsstudium; aber er arbeitet jetzt schon im Bureau des Generalstaatsanwalts und verdient dort
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