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Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)

Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)

Titel: Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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ein Agent ihrer Feinde! Er hat hier alles angezettelt, das ist sicher. Und der Beweis, daß der Streich geglückt ist, ist der, daß er gar nicht mehr hierherkommt... Er hat mir gesagt, daß ich seine Wohnung anderweitig vermieten kann.«
    August stürzte auf den Boulevard hinaus, rannte hinter dem Wagen her und brachte ihn endlich zum Halten, so laut schrie er.
    »Was wollen Sie denn noch von mir?« fragte Gottfried.
    »Die Manuskripte meines Großvaters!...«
    »Sagen Sie ihm, er soll sie sich bei Herrn Nikolaus holen.«
    Der junge Mann hielt diese Worte für den grausamen Spott eines Diebes, der alles Schamgefühl verloren hat, und fiel auf den Schnee hin, als er sah, wie der Wagen seinen Weg eiligst fortsetzte. Dann erhob er sich mit wildem Entschlusse und begab sich zu Bett, erschöpft von dem schnellen Laufen und gebrochenen Herzens. Am andern Morgen erwachte August de Mergi allein in seiner Wohnung, in der noch am Tage vorher seine Mutter und sein Großvater sich befunden hatten, in peinlicher Erregung über die Lage, in die er sich versetzt sah. Die tiefe Stille der sonst so belebten Wohnung, wo für jeden Moment eine Pflichterfüllung, eine Tätigkeit vorgezeichnet war, ließ ihn so viel Unglück gewahr werden, daß er hinabging und die Mutter Vauthier fragte, ob sein Großvater nicht in der Nacht oder am frühen Morgen zurückgekommen sei; denn er war erst sehr spät aufgewacht und nahm an, daß, wenn der Baron Bourlac heimgekehrt wäre, ihn die Portierfrau von der Nachsuche nach ihm in Kenntnis gesetzt haben würde. Aber die Portierfrau antwortete ihm höhnisch, er wisse doch recht gut, wo sein Großvater zu finden sei; und wenn er diesen Morgen nicht zurückgekommen wäre, so sei das deshalb, weil er im Schloß Clichy wohne. Dieser Spott von seiten einer Frau, die ihn noch am Abend vorher so freundlich behandelt hatte, versetzte den jungen Mann wieder völlig in Wut, und er eilte nach der Klinik in der Rue Basse-St-Pierre, verzweifelt bei dem Gedanken, daß sein Großvater im Gefängnis sei.
    Der Baron Boulcac war die ganze Nacht um die Klinik, deren Eintritt ihm untersagt war, und um das Haus des Doktors Halpersohn herumgeirrt, von dem er natürlich Rechenschaft über ein solches Verfahren verlangen wollte. Der Doktor war erst um zwei Uhr morgens nach Hause gekommen. Um einhalb zwei Uhr war der Alte an der Tür des Doktors gewesen und dann in der großen Allee der Champs-Elysées umhergegangen; als er um einhalb drei Uhr wiederkam, sagte ihm der Portier, daß Herr Halpersohn heimgekehrt und schlafen gegangen sei, und daß er ihn nicht wecken dürfe.
    Seit einhalb drei Uhr irrte der arme verzweifelte Vater in der Gegend am Quai unter den mit Rauhfrost überzogenen Bäumen der Seitenalleen des Cours-la-Reine umher und wartete, bis es Tag wurde. Um neun Uhr morgens erschien er bei dem Arzt und fragte ihn, warum er seine Tochter derart abgesperrt halte.
    »Mein Herr, erwiderte der Doktor, »gestern habe ich die Verantwortung für die Gesundheit Ihrer Tochter übernommen; aber jetzt bin ich Ihnen für ihr Leben verantwortlich, und Sie werden begreifen, daß ich in einem solchen Falle unbeschränkter Herr sein muß. Ich muß Ihnen mitteilen, daß Ihre Tochter gestern eine Arzenei bekommen hat, die den Grundstoff des Weichselzopfes heraustreiben soll, und solange dieser schreckliche Krankheitsstoff nicht entfernt ist, darf niemand zu ihr. Ich will nicht, daß eine heftige Erregung, ein Diätfehler mir die Kranke und Ihnen die Tochter raubt; wenn Sie sie durchaus sehen wollen, so werde ich drei Ärzte zu einer Konsultation zusammenberufen, um mich von der Verantwortlichkeit zu entlasten, denn die Kranke könnte sterben!«
    Von Müdigkeit überwältigt, sank der Alte auf einen Stuhl, erhob sich aber schnell und sagte: »Verzeihen Sie mir, mein Herr. Ich habe die ganze Nacht mit entsetzlicher Angst auf Sie gewartet; Sie wissen nicht, wie ich meine Tochter liebe, die ich seit fünfzehn Jahren zwischen Leben und Tod schwebend mir erhalten habe, und diese acht Tage des Wartens sind für mich eine Folter.«
    Der Baron verließ Halpersohns Sprechzimmer wankend wie ein Betrunkener. Ungefähr eine Stunde nach seinem Fortgehen, wobei ihn der jüdische Arzt am Arm bis an das Geländer der Treppe führen mußte, erschien August bei diesem. Der arme junge Mann hatte die Portierfrau der Klinik ausgefragt und von ihr gehört, daß der Vater der am Tage vorher eingelieferten Dame am Abend wiedergekommen sei, daß er nach ihr

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