Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)
verschwindet.
»Wollen Sie zu Frau de la Chanterie, mein Herr? fragte der Priester.
»Jawohl«, erwiderte Gottfried. »Die Worte, die ich Sie eben an den Arbeiter richten hörte, haben mich überzeugt, daß dieses Haus, wenn Sie darin wohnen, für meinen Seelenfrieden heilbringend sein muß.«
»Sie waren also Zeuge meines Mißerfolges?« sagte der Priester und erhob den Türklopfer; »ich habe ja nichts erreicht.«
»Es schien mir im Gegenteil, daß es der Arbeiter war, der ziemlich energisch Geld von Ihnen verlangte.«
»Ach«, antwortete der Priester, »es gehört mit zu dem schlimmsten Unglück, das die Revolutionen über Frankreich gebracht haben, daß jede von ihnen eine neue Prämie für den Ehrgeiz der unteren Klassen gestiftet hat. Um sich aus seinem Stande herauszuarbeiten und ein Vermögen zu erlangen, was man heute als die einzige Sicherheit in sozialer Beziehung betrachtet, gibt sich dieser Arbeiter mit ungeheuerlichen Plänen ab, die, wenn sie nicht von Erfolg gekrönt sind, ihn nebst seinen Spekulationen in Konflikt mit der menschlichen Gerechtigkeit bringen müssen. Das kommt manchmal bei einem Liebesdienst heraus.«
Der Pförtner öffnete eine schwere Tür, und der Priester sagte zu Gottfried: »Kommen Sie vielleicht wegen der kleinen Wohnung?«
»Jawohl, mein Herr.«
Der Priester und Gottfried durchschritten nun einen ziemlich großen Hof, in dessen Hintergrund sich im Dunkeln ein hohes Haus abzeichnete, neben dem sich ein viereckiger, sichtlich sehr alter Turm noch über die Dächer erhob. Wer die Geschichte der Stadt Paris kennt, weiß, daß hier das Terrain vor und rings um die Kathedrale sich so erhöht hat, daß keine Spur mehr von den zwölf Stufen vorhanden ist, über die man einstmals zu ihr hinaufstieg. Heute befindet sich die Basis der Säulen der Vorhalle in gleicher Höhe mit dem Pflaster. Das ursprüngliche Erdgeschoß des Hauses stellte daher jetzt den Keller dar. Vor dem Eingang zum Turm befand sich eine Freitreppe, von der man zu einer Wendeltreppe gelangte, die um einen Stamm in Form einer Rebe hinaufführte. Der Stil erinnerte an den Ludwigs XII. bei den Treppen im Schlosse Blois und geht ins vierzehnte Jahrhundert zurück. Von diesen unzähligen Zeichen des Altertums gefesselt, konnte sich Gottfried nicht enthalten, lächelnd zu dem Priester zu sagen: »Von gestern stammt der Turm nicht her.«
»Er hat, wie es heißt, dem Angriff der Normannen widerstanden und soll einen Teil des ersten Königspalastes in Paris gebildet haben; nach der Tradition war er aber wahrscheinlicher die Wohnung des berühmten Domherrn Fulbert, des Oheims der Héloise.«
Während er so sprach, öffnete der Priester die Tür der Wohnung, die das Erdgeschoß zu sein schien und die sich, nach dem ersten und zweiten Hof zu – denn es war daselbst noch ein kleiner innerer Hof–, im ersten Stock befand.
Im ersten Zimmer arbeitete bei einer kleinen Lampe ein Dienstmädchen mit einer Batisthaube, die mit getollten Falten als einzigem Schmuck besetzt war; sie steckte die eine Nadel ins Haar und behielt ihr Strickzeug in der Hand, während sie sich erhob, um die Tür eines nach dem inneren Hof zu gelegenen Salons zu öffnen. Ihre Kleidung glich der der Grauen Schwestern.
»Gnädige Frau, ich bringe Ihnen einen Mieter«, sagte der Priester und führte Gottfried in das Zimmer, wo drei Personen auf Sesseln neben Frau de la Chanterie saßen.
Diese drei und auch die Hausherrin erhoben sich; als der Priester dann einen Sessel für Gottfried herangeschoben und der künftige Mieter auf ein Zeichen der Frau de la Chanterie und ihre altmodische Äußerung: »Lassen Sie sich nieder!« Platz genommen hatte, glaubte sich der Pariser meilenfern von Paris, in der südlichen Bretagne oder in Hinterkanada.
Die Stille hat wohl verschiedene Grade. Gottfried, schon unter dem Eindruck der Stille in den Rues Massillon und Chanoinesse, durch die nicht zwei Wagen im Monat fahren, und der Stille im Hofe und im Turme, mußte sich wie im Mittelpunkte des Schweigens in diesem Salon fühlen, der von so viel alten Straßen, alten Höfen und alten Mauern beschirmt war.
Dieser Teil der Seineinsel, Le Cloître genannt, hat seinen allen Klöstern eigenen Charakter bewahrt; er erscheint feucht und kalt und verharrt auch in den lärmendsten Tagesstunden im tiefsten mönchischen Schweigen. Es muß auch erwähnt werden, daß dieser ganze Teil der Cité, der zwischen der Seitenfront von Notre-Dame und dem Fluß eingeklemmt ist, nach
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