Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)

Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)

Titel: Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
Vom Netzwerk:
vom Geschäft zurückgezogen hatte, zu verheiraten, die sollte der kranken Seele ihres Sohnes Hilfe bringen; aber der Vater besaß jenen nüchtern rechnenden Verstand, der einen früheren Kaufmann bei der Festsetzung von Ehekontrakten nicht im Stiche läßt, und nachdem Gottfried ein Jahr lang als Nachbar sich um das Mädchen bemüht hatte, wurde sein Antrag abgelehnt. Nach der Ansicht dieser eingefleischten Bourgeois' mußte der Bewerber in Anbetracht seines früheren Lebens ein durchaus unmoralischer Mensch sein; außerdem hatte er im Verlaufe dieses Jahres noch mehr von seinem Kapital verbraucht, weil er den Eltern zu imponieren und der Tochter zu gefallen wünschte. Diese, übrigens sehr verzeihliche Prunksucht gab den Ausschlag für die Ablehnung von seiten einer Familie, bei der eine solche Verschwendung Schrecken erregte, nachdem sie erfahren hatte, daß Gottfried in sechs Jahren hundertfünfzigtausend Franken von seinem Vermögen verlorengegangen waren.
    Dieser Schlag traf sein schon so schwer verwundetes Herz um so stärker, als das junge Mädchen durchaus keine Schönheit war. Gottfried hatte aber, von seiner Mutter darauf hingewiesen, an seiner Zukünftigen ein ernsthaftes Wesen und den großen Vorzug eines gesunden Verstandes schätzen gelernt; er hatte sich an ihr Gesicht gewöhnt und sich in seinen Ausdruck vertieft, er liebte den Klang ihrer Stimme, ihr Gebaren und ihren Blick. Diese Neigung war sein letzter Einsatz für seine Lebensaussichten gewesen; um so bitterer war seine Enttäuschung. Als die Mutter nun starb, sah er, dessen Bedürfnisse sich dem steigenden Luxus angepaßt hatten, sich im Besitze von fünftausend Franken Rente als ganzem Einkommen und der Gewißheit, niemals irgendeinen Verlust wieder gutmachen zu können, da er sich unfähig fühlte, den Fleiß zu entwickeln, den das furchtbare Wort: »Geldverdienen« erfordert.
    Eine solche ungeduldige und grämliche Schwachmütigkeit kann sich nicht entschließen, sogleich klein beizugeben. Daher versuchte Gottfried während seiner Trauerzeit in Paris sein Glück: er speiste an der Table d'hôtel, ließ sich in unvorsichtiger Weise mit Fremden ein, verkehrte in der Gesellschaft und fand nur Gelegenheiten, Geld auszugeben. Wenn er auf den Boulevards spazierenging, litt er innerlich so sehr, daß schon der Anblick einer von einer heiratsfähigen Tochter begleiteten Mutter ihm die gleiche schmerzhafte Empfindung verursachte wie der eines jungen Mannes, der ins Bois ritt, oder eines Parvenüs in einer eleganten Equipage oder eines ordengeschmückten Beamten. Das Bewußtsein seiner Ohnmacht sagte ihm, daß er weder auf eine anständige Stellung zweiten Ranges noch auf irgendeinen unschwer auszufüllenden Platz hoffen dürfte; und er besaß ein genügendes Feingefühl, um dadurch beständig verletzt zu werden, und genug Geist, um Trauerlieder voller Galle darüber anzustimmen.
    Unfähig zum Kampfe mit den Dingen und sich bewußt, daß er wohl eine höhere Begabung besitze, aber nicht die Willenskraft, sie in Tätigkeit umzusetzen, in dem Gefühl dieser Unvollkommenheit ohne Kraft, etwas Großes zu unternehmen, wie ohne Widerstand gegen die Ansprüche, die er von seinem früheren Leben, seiner Erziehung und seiner Sorglosigkeit her beibehalten hatte, wurde er von mehreren krankhaften Zuständen aufgezehrt, von denen ein einziger genügt hätte, einem jungen Manne, der den religiösen Glauben verloren hatte, das Dasein zu vergällen. Und so zeigte Gottfried jenes Gesicht, das man bei so vielen Männern findet, daß es für den Pariser typisch geworden ist; man liest auf ihm getäuschten oder erloschenen Ehrgeiz, durch das tägliche Schauspiel des Pariser öffentlichen Lebens genügend beschäftigten und dadurch abgestumpften Haß, eine Blasiertheit, die nach Anreiz verlangt, ein Sichbeklagen ohne Berechtigung, eine Grimasse der Kraftanstrengung, eine von früheren Mißerfolgen vergiftete Gesinnung, die dazu antreibt, sich über alles zu mokieren, alles, was aufwärts strebt, zu verhöhnen, die unumgänglichsten gesetzlichen Vorschriften zu mißachten, sich zu freuen, wenn sie auf Schwierigkeiten stoßen, und keine Gesellschaftsordnung anzuerkennen. Dieses Pariser Laster bedeutet für die tatkräftige, andauernde Verschwörung der Leute mit Energie dasselbe wie der Splint für den Saft des Baumes: es behütet sie, es unterstützt sie, und es hält sie geheim.
    Seiner selbst überdrüssig, wollte Gottfried eines Morgens ein neues Leben beginnen,

Weitere Kostenlose Bücher