Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)
Norden zu und im Schatten der Kathedrale liegt. Der Wind weht hier, ohne auf ein Hindernis zu stoßen, und die Seinenebel werden gewissermaßen von den schwarzen Seitenwänden der alten Metropolitankirche festgehalten. Daher wird sich niemand wundern, daß Gottfried in diesen alten Räumen in Gegenwart der vier schweigenden Personen, die ebenso feierlich wie ihre Umgebung wirkten, ein eigenartiges Gefühl empfand. Er blickte nicht um sich, weil sich seine Neugier auf Frau de la Chanterie konzentrierte, deren Namen ihm schon zu denken gegeben hatte. Diese Dame stammte augenscheinlich aus einem andern Jahrhundert, um nicht zu sagen, aus einer andern Welt. Ihr Gesicht hatte einen milden Ausdruck, einen matten kühlen Teint, eine Adlernase, eine Stirn, auf der Güte thronte, braune Augen und ein Doppelkinn: das Ganze umrahmt von silbernen Locken. Ihr Kleid hätte man als Futteral bezeichnen können, so eng lag es an, entsprechend der Mode des achtzehnten Jahrhunderts. Der Stoff, karmeliterbraune Seide mit dichten schmalen grünen Streifen, schien ebenfalls noch aus dieser Zeit herzustammen. Der obere Teil, mit dem unteren aus einem Stück geschnitten, war unter einem Umhang aus matter, mit Spitzen garnierter Seide verborgen, der über der Brust von einer Nadel mit einem Miniaturbilde zusammengehalten wurde. Die Füße in schwarzsamtenen Hausschuhen ruhten auf einem kleinen Kissen. Ebenso wie ihre Dienerin strickte Frau de la Chanterie Strümpfe und hatte unter ihrer Spitzenhaube eine Nadel in ihre gekräuselten Locken gesteckt.
»Haben Sie mit Herrn Millet gesprochen? sagte sie zu Gottfried mit einer Kopfstimme, wie sie den alten Herzoginnen eigen war, um den fast stumm Gewordenen zum Sprechen zu veranlassen.
»Jawohl, gnädige Frau.«
»Ich fürchte, daß Ihnen die Wohnung nicht zusagen wird«, fuhr sie fort und warf einen Blick auf den eleganten, neuen, frischen Anzug ihres zukünftigen Mieters.
Gottfried trug Lackstiefel, gelbe Handschuhe, wertvolle Hemdknöpfe und eine schöne Uhrkette auf feiner schwarzseidenen blaugeblümten Weste. Frau de la Chanterie zog eine kleine silberne Pfeife aus der Tasche. Auf ihren Pfiff trat das Dienstmädchen herein.
»Manon, mein Kind, zeig dem Herrn die Wohnung. Wollen Sie den Herrn begleiten, mein lieber Vikar?« wandte sie sich an den Priester. »Wenn die Zimmer,« sagte sie, indem sie sich wieder erhob und Gottfried ansah, »Ihnen doch gefallen sollten, können wir ja über die Bedingungen reden.«
Gottfried verbeugte sich und ging hinaus. Er vernahm das Klappern von Schlüsseln, die Manon aus einer Schublade hervorholte, und sah, wie sie die Kerze in einem großen Handleuchter aus gelbem Kupfer anzündete. Ohne ein Wort zu sagen, ging Manon voraus. Als Gottfried sie auf der Treppe einholte und in die oberen Stockwerke hinaufstieg, kamen ihm Zweifel, ob er in der Wirklichkeit lebe; er träumte im Wachen, er betrachtete die Welt um sich wie einen der phantastischen Romane, die er in müßigen Stunden gelesen hatte. Jeder Pariser, der wie er aus einem der neuen Viertel, aus luxuriös möblierten Häusern, aus eleganten Restaurants und Theatern, aus dem bewegten Treiben der inneren Stadt hierher gekommen wäre, hätte ebenso empfunden. Der Leuchter in der Hand des Dienstmädchens erhellte nur schwach die Wendeltreppe, über die Spinnen ihre verstaubten Netze gezogen hatten. Manon trug einen weiten faltigen Rock aus grobem Wollstoff; ihre Taille war vorn und hinten viereckig, ihr ganzes Kleid aus einem Stück geschnitten. Als sie im dritten Stock, der als der zweite galt, angelangt waren, hielt Manon still, schloß ein altes Türschloß auf und öffnete eine Tür, deren Anstrich in plumper Weise astiges Mahagoniholz imitierte.
»Hier«, sagte sie und trat zuerst hinein.
War es ein Geizhals oder ein verhungerter Maler oder ein Zyniker, der sich um die Welt nicht bekümmerte, oder irgendein Geistlicher, der ganz zurückgezogen lebte, gewesen, der diese Räume bewohnt hatte? Man mußte sich solche Fragen vorlegen, wenn man die Atmosphäre des Elends einatmete, die Fettflecke an den verräucherten Tapeten, die geschwärzte Decke, die Fenster mit den kleinen staubigen Scheiben, die dunkel gewordenen Steine des Fußbodens und die Holzteile mit ihrem klebrigen Überzug betrachtete. Eine feuchte Kälte entströmte den Kaminen mit gemalten Skulpturen, deren Spiegel aus dem siebzehnten Jahrhundert flammten. Die Wohnung umfaßte, wie das Haus, rechtwinklig den inneren Hof, den Gottfried,
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