Kehrseite der Geschichte unserer Zeit (German Edition)
da es Nacht war, nicht erkennen konnte.
»Wer hat denn hier gewohnt?« fragte Gottfried den Priester.
»Ein früherer Parlamentsrat, ein Großonkel der gnädigen Frau, ein Herr von Boisfrelon. Kindisch geworden zur Zeit der Revolution, ist der alte Mann 1832 im Alter von sechsundneunzig Jahren gestorben, und die Hausherrin konnte sich nicht gleich entschließen, einen Fremden hier einziehen zu lassen; sie kann aber nicht länger den Mietzins entbehren.
»Oh, die gnädige Frau wird die Wohnung reinigen lassen und so möblieren; daß der Herr zufrieden sein wird«, bemerkte Manon.
»Es wird darauf ankommen, was Sie mit ihr vereinbaren«, sagte der Priester. »Es ließe sich hier ein hübsches Sprechzimmer, ein großes Schlafzimmer und ein Kabinett einrichten, die rückwärts nach dem Hof gelegenen beiden kleinen Räume könnten gut als Arbeitszimmer dienen. So ist meine Wohnung, die unter dieser liegt, eingerichtet und ebenso die darüber gelegene.
» Ja,« sagte Manon, »Herrn Alains Wohnung ist dieselbe wie die Ihrige, aber sie hat die Aussicht auf den Turm.«
»Ich meine, man müßte die Wohnung und das Haus noch einmal am Tage ansehen ...«, sagte Gottfried ängstlich.
»Das kann geschehen«, erwiderte Manon.
Der Priester und Gottfried gingen wieder hinab, während die Dienerin die Türen schloß und dann nachkam, um ihnen zu leuchten. Als Gottfried in den Salon zurückgekehrt war, konnte er, da er sich an die Umgebung gewöhnt hatte, während er sich mit Frau de la Chanterie unterhielt, die Personen und die Sachen um ihn herum einer Prüfung unterziehen.
Der Salon hatte alte rote Fenstervorhänge, die mit seidenen Schnüren zurückgenommen waren. Rote Fliesen waren rings um einen alten gewebten Teppich sichtbar, der den Fußboden nicht völlig bedeckte. Die Holztäfelung war grau angestrichen. Die Decke wurde durch einen mächtigen Balken in zwei Teile geteilt, der vom Kamin ausging und eine dem Luxusbedürfnis nachträglich gemachte Konzession zu sein schien. Die Sessel aus weiß gestrichenem Holz waren mit Stickereien bezogen. Eine elende Uhr zwischen zwei Leuchtern aus vergoldetem Kupfer war der Kaminschmuck. Neben Frau de la Chanterie stand ein alter Tisch mit Kirschfüßen, auf dem Wollknäuel in einem Weidenkorbe lagen. Eine hydrostatische Lampe erleuchtete den Raum.
Die vier Männer, die steif, unbeweglich und schweigend wie Bronzefiguren dasaßen, hatten, ebensowie Frau de la Chanterie, offenbar ihr Gespräch abgebrochen, als sie den Fremden zurückkommen hörten. Alle zeigten kalte, verschwiegene Gesichter, die in Einklang mit dem Salon, dem Hause und dem Stadtviertel standen. Frau de la Chanterie hielt die Bemerkungen Gottfrieds für gerechtfertigt und erwiderte ihm, daß sie nichts machen lassen würde, bevor sie nicht die Wünsche ihres Mieters oder besser gesagt ihres Pensionärs erfahren hätte. Wenn der Mieter sich den Gewohnheiten des Hauses anpassen wolle, könne er ihr Pensionär werden, aber diese Gewohnheiten seien von den in Paris üblichen so sehr verschieden! Man lebe in der Rue Chanoinesse wie in der Provinz: Um zehn Uhr müßten alle zu Hause sein; man dulde keinen Lärm; weder Frauen noch Kinder dürften hier verkehren, die die hier übliche Lebensweise stören würden. Frau de la Chanterie wünschte vor allem einen Mieter, der ein bescheidenes, bedürfnisloses Leben führe; sie könne die Wohnung nur mit dem unbedingt Notwendigen möblieren. Herr Alain (sie wies dabei auf einen der vier Herren) sei übrigens damit zufrieden, und sie würde ihren neuen Mieter ebenso wie die alten behandeln.
»Ich glaube nicht,« sagte jetzt der Priester, »daß der Herr bereit ist, Mitglied unserer Klostergemeinde zu werden.
»Ei, warum denn nicht?« fragte Herr Alain; »wir befinden uns hier wohl, es geht uns doch durchaus nicht schlecht.«
»Gnädige Frau,« erklärte Gottfried und erhob sich, »ich werde mir die Ehre geben, Sie morgen wieder aufzusuchen.«
Obwohl er ein junger Mann war, erhoben sich auch die vier alten Herren und ebenso Frau de la Chanterie, und der Vikar begleitete ihn bis auf die Freitreppe. Ein Pfiff ertönte. Auf dieses Zeichen erschien der Pförtner mit einer Laterne, nahm Gottfried in Empfang, führte ihn auf die Straße und schloß dann die riesige gelbliche, schwere, gefängnisartige Tür, die mit Schlössern in Arabesken, die aus einer schwer zu bestimmenden Zeit herrührten, versehen war.
Als Gottfried in seinem Kabriolett nach den belebten, hellen, erwärmten
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