Kein Friede den Toten
natürlich auch.«
Loren erwiderte das Lächeln.
»Es gibt verschiedene Arten von Unruhestiftern«, sagte die Oberin. »Sie waren zwar rebellisch, hatten aber immer ein gutes Herz. Sie sind nie grausam zu anderen gewesen. Für mich war das immer das Wichtigste. Sie haben oft Schwierigkeiten bekommen, weil Sie für Schwächere in die Bresche gesprungen sind.«
Loren beugte sich vor und überraschte sich selbst: Sie legte ihre Hand auf die der Nonne. Schwester Katherine schien diese Geste ebenfalls zu verblüffen. Sie blickte Loren mit ihren blauen Augen an.
»Sie müssen mir versprechen, alles was ich Ihnen erzähle, für sich zu behalten«, sagte die Oberin. »Das ist sehr wichtig. Besonders im gegenwärtigen Klima. Schon der Hauch eines Skandals …«
»Ich werde nichts unter den Teppich kehren.«
»Das würde ich auch nicht von Ihnen verlangen«, sagte sie, jetzt in ihrem religiös-gekränkten Ton. »Wir müssen die Wahrheit finden. Ich habe ernsthaft darüber nachgedacht, ob wir der Sache …«, sie wedelte mit der Hand, »… nicht einfach ihren Lauf lassen sollen. Schwester Mary Rose wäre einfach in aller Stille begraben worden, und damit wäre die ganze Sache erledigt gewesen.«
Loren ließ ihre Hand auf der der Nonne liegen. Die Hand der älteren Frau war dunkel wie Holz. »Ich werde es versuchen.«
»Sie müssen das verstehen. Schwester Mary Rose war eine unserer besten Lehrerinnen.«
»Sie hat Gemeinschaftskunde unterrichtet?«
»Ja.«
Loren zermarterte ihr Gedächtnis. »Ich kann mich nicht an sie erinnern.«
»Sie ist erst zu uns gekommen, als Sie schon abgegangen waren.«
»Wie lange war sie in St. Margaret’s?«
»Sieben Jahre. Und eins sage ich Ihnen. Die Frau war eine Heilige. Ich weiß, dass das Wort heutzutage inflationär benutzt wird, aber man kann es nicht anders sagen. Schwester Mary Rose hat nie nach Ruhm gestrebt. Jede Art von Selbstsucht war ihr fremd. Sie wollte einfach nur das Richtige tun.«
Die Oberin zog ihre Hand weg. Loren lehnte sich wieder zurück und schlug die Beine übereinander. »Fahren Sie fort.«
»Als wir – also zwei Schwestern und ich –, als wir sie am Morgen fanden, hatte Schwester Mary Rose noch ihr Nachtgewand an. Wie viele von uns war sie eine sehr bescheidene Frau.«
Loren nickte und versuchte, sie zum Weiterreden zu ermutigen.
»Wir waren natürlich bestürzt. Sie atmete nicht mehr. Wir haben es mit Mund-zu-Mund-Beatmung probiert und mit Herzdruckmassage. Vor kurzem war ein Polizist bei uns und hat den Kindern etwas über Erste Hilfe erzählt. Also haben wir es versucht. Ich habe die Herzdruckmassage durchgeführt, und …« Ihre Stimme erstarb.
» … und da ist Ihnen aufgefallen, dass Schwester Mary Rose Brustimplantate hatte.«
Die Oberin nickte.
»Haben Sie das den anderen Schwestern erzählt?«
»Nein, natürlich nicht.«
Loren zuckte die Achseln. »Ich verstehe immer noch nicht, wo genau das Problem liegt«, sagte sie.
»Nicht?«
»Wahrscheinlich hat Schwester Mary Rose ein anderes Leben geführt, bevor sie ins Kloster gegangen ist. Wer weiß, wie das aussah?«
»Genau das ist es ja«, sagte die Oberin. »Das war nicht der Fall.«
»Jetzt kann ich Ihnen nicht folgen.«
»Schwester Mary Rose ist aus einer sehr konservativen Gemeinde in Oregon zu uns gekommen. Sie war Waise und ist mit fünfzehn ins Kloster eingetreten.«
Loren dachte darüber nach. »Sie hatten also keine Ahnung, dass …?« Sie deutete mit den Händen einen Halbkreis vor ihrer Brust an.
»Absolut nicht.«
»Und wie erklären Sie sich das?«
»Ich glaube …«, die Oberin biss sich auf die Lippe. »Ich glaube, Schwester Mary Rose ist unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zu uns gestoßen.«
»Was für falsche Tatsachen?«
»Das weiß ich nicht.« Die Oberin sah sie erwartungsvoll an.«
»Und da«, sagte Loren, »komme ich ins Spiel.«
»Ja, natürlich.«
»Ich soll herausfinden, was mit ihr los war.«
»Ja.«
»Diskret.«
»Das hoffe ich, Loren. Aber wir müssen die Wahrheit erfahren.«
»Selbst wenn sie hässlich ist.«
»Erst recht wenn sie hässlich ist.« Die Oberin stand auf. »So geht man mit der Hässlichkeit auf Gottes Erde um. Man stellt sie ins Licht des Herrn.«
»Ja«, sagte Loren. »Man stellt sie ins Licht.«
»Sie glauben nicht mehr an Gott, nicht wahr, Loren?«
»Ich habe noch nie an ihn geglaubt.«
»Ach, da bin ich mir nicht so sicher.«
Loren stand auf, aber die Oberin überragte sie immer noch. Genau, dachte Loren.
Weitere Kostenlose Bücher