Kein ganzes Leben lang (German Edition)
Gischt spritzte. Ihre einst bunten Farben waren ausgewaschen vom Salzwasser, das der Wind mit sich brachte. Sie fuhren durch den Hafen. Braun gebrannte Männer mit runzeligen Gesichtern luden ihre Fischfänge von den bunten Kuttern. Gezeichnet von Sonne und Meer, dachte Lucrezia. Als Kind hatte sie die Fischer oft stundenlang beobachtet. Neugierig hatte sie die zappelnden Fische in den Netzen betrachtet, bis ihnen die Luft ausging. Alte Frauen in Kitteln saßen vor den Häusern und sahen dem Bus nach. Die jungen Leute hatten das Dorf verlassen. Hier gab es für sie keine Zukunft. Die Beklemmung schnürte Lucrezia die Kehle zu. Sie öffnete die oberen Blusenknöpfe. Zwei Jahre war sie nicht mehr hier gewesen, und sie würde auch nicht länger bleiben als nötig.
Lucrezia saß ihrer Mutter gegenüber am Küchentisch und trank einen Espresso. Nichts hatte sich verändert. Die schmale Küchenzeile aus den Sechzigerjahren; der Gasherd; die unteren Küchenfächer, die nicht eine Tür, sondern ein verblichener Vorhang verdeckte; die orange Plastikwanduhr, die tickte; und das Kreuz über dem Türrahmen, um das ein Rosenkranz gewickelt war. Die Küchentür stand offen und führte direkt auf die Gasse. Ein alter Mann schlurfte vorbei und starrte sie an. Sie hatte das unwiderstehliche Bedürfnis, wegzulaufen.
In die Stille hinein fragte sie: „Hast du nie Lust gehabt, einfach wegzulaufen?“
Ihre Mutter schaute sie aus roten, verheulten Augen verwirrt an. Sie war ganz in Schwarz gekleidet. Den Kopf bedeckte ein Tuch mit Spitze.
Lucrezia machte eine ausladende Handbewegung. „Weg aus dieser kleinbürgerlichen, bedrückenden Wohnung, aus dem Leben mit Doppelmoral.“ Sie bereute sofort ihre Worte und machte sich auf eine Jammertirade gefasst, wie undankbar sie war.
„Ja, jeden Tag“, kam es leise vom anderen Ende des Tisches.
Erstaunt sah Lucrezia ihre Mutter an.
„Warum hast du es nicht getan?“
„Ich hatte nicht den Mut“, flüsterte diese.
Eine Woge der Zärtlichkeit erfasste Lucrezia. Sie griff nach der Hand ihrer Mutter. Diese zuckte zusammen aufgrund der ungewohnten Geste der Zuneigung.
„Trauerst du wirklich um ihn?“, fragte Lucrezia.
„Um ihn?“ Ihre Mutter lachte höhnisch. Sie stand auf und schloss die Küchentür.
„Ich wünschte, ich hätte ihn schon früher aus dem Weg geräumt.“
„Aus den Weg geräumt?“ Lucrezia schaute ihre Mutter kritisch an.
Plötzlich war der Blick ihrer Mutter klar, ihre Stimme fest. „Ich hatte schon alles vorbereitet. Aber er ist mir zuvorgekommen.“
„Du wolltest Papa ...“
„… um die Ecke bringen“, vollendete ihre Mutter den Satz. In ihrer Stimme schwang Stolz mit.
Lucrezia sah ihre Mutter ungläubig an. Das konnte nicht wahr sein. Ihre jammernde, schwache Mutter, die kein Rückgrat hatte? Sie sah sie an. Die Augen ihrer Mutter spiegelten eine Stärke wider, die sie noch nie zuvor gesehen hatte.
„Wir haben uns das Leben gegenseitig schwer gemacht. Er hat mich beherrscht. Ich habe gejammert. Es wurde in den letzten Jahren immer schlimmer. Mir drohte der Kopf zu platzen.“
„Aber warum sich die Hände schmutzig machen? Du wusstest, dass er früher oder später an seinem kranken Herzen sterben würde“, wandte Lucrezia ein.
„Früher war mir lieber. Und wer spricht davon, sich die Hände schmutzig zu machen?“ Ihre Mutter stand auf und schob den Vorhang zur Seite, hinter dem sich Kochtöpfe und Pfannen verbargen. Es klapperte. Schließlich stand sie wieder auf und stellte einen Salzstreuer vor Lucrezia.
„Ein sauberer Tod.“ Ihre Mutter betrachtete den Salzstreuer stolz.
„Bist du nicht froh, dass du ihn nicht auf dem Gewissen hast?“ Lucrezia griff nach dem Salzstreuer und wendete ihn vorsichtig in den Händen.
„Im Gegenteil, fast tut es mir leid, nicht zum Zuge gekommen zu sein“, entgegnete ihre Mutter.
Lucrezia sah sie fassungslos an.
„Weißt du, was verrückt ist?“ Ihre Mutter sah aus dem Fenster. „Jetzt, wo er tot ist, kann ich ihn endlich ungestört lieben.“
Lucrezia ließ die Worte auf sich wirken.
„Worum trauerst du dann?“, fragte sie schließlich.
„Um mein verlorenes Leben.“
Lucrezia saß auf einem Mäuerchen und schaute auf das Meer, das in allen erdenklichen Türkis- und Blautönen in der Sonne glitzerte. Ein kräftiger Wind blies ihr die Haare ins Gesicht. Sie schloss die Augen.
„Jetzt, wo er tot ist, kann ich ihn endlich ungestört lieben“, echoten die Worte ihrer Mutter in
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