Kein ganzes Leben lang (German Edition)
ihr.
Die Worte trösteten sie.
Lucrezia hob den schwarzen Schleier, der ihr Gesicht bedeckte, und schaute in das offene Grab. Warmer Sommerregen fiel auf den Mahagonisarg. Sie sah in den grauen Himmel. Die rote Rose in ihrer Hand wirkte fehl am Platze. Sie dachte an ihren Vater, an ihr Kind und ihre erste Liebe. Alle tot.
Dumpf drang das wehleidige Klagen ihrer Mutter und ihrer Tante an ihr Ohr.
Sie ließ die Rose los, folgte ihrem Fall.
Ihre Augen waren trocken.
Ihre Trauer war zu groß für Tränen.
Mit einem Satz sprang sie der Rose hinterher.
10. Kapitel
„Lucrezia, Liebes.“ Die sanften Worte drangen an ihr Ohr. Sie öffnete die Augen und schaute in Annas besorgtes Gesicht.
„Bin ich in der Hölle?“
„Nein.“ Anna lächelte. „Du bist im Krankenhaus mit einem gebrochenen Bein.“
Erst jetzt bemerkte Lucrezia, dass sie ihr rechtes Bein nicht bewegen konnte.
Sie zuckte zusammen, als sie ihre Hand hob. Etwas schmerzte in ihrem Handgelenk. Sie hing an einem Tropf.
Anna streichelte über ihre andere Hand.
Mühsam versuchte sie sich aufzurichten. Die Wände des Krankenzimmers waren in einem kalten Mintgrün gestrichen. Das Bett neben ihr war leer. Über einem schmalen Holztisch hing ein Marienbild. Sie stöhnte und ließ sich wieder in die Kissen fallen. Dann strömten die Bilder auf sie ein. Der positive Schwangerschaftstest, die Türschwelle der Klinik, das Röcheln ihres Vaters am Telefon, Christiano, der Sarg in dem dunklen Grab, der graue Himmel, die rote Rose, der Fall.
Sie schloss die Augen. Warum war sie nur aufgewacht?
„Liebes, ich werde mich jetzt um dich kümmern. Du bist nicht alleine.“ Die warmen Worte drangen an ihr Ohr und trösteten sie.
„Wie bist du hierhergekommen?“, fragte sie.
„Ich habe dich angerufen. Deine Mutter ist an dein Handy gegangen und hat mir erzählt, dass du einen Unfall hattest. Du hattest die letzten Tage hohes Fieber.“ Anna hielt kurz inne. „Und da ist noch etwas, worum ich dich bitten möchte.“
Lucrezia schlug die Augen auf und sah in Annas blaue Augen.
„Ich möchte, dass du die Patentante von Laura wirst.“
Es dauerte einen Augenblick, bis sie begriff, was Anna da gesagt hatte. Sie wollte schon ablehnen, da nahm ein vager Plan in ihrem Kopf Gestalt an. Anna griff nach ihrer gesunden Hand und drückte sie.
„Danke. Das möchte ich gerne“, erwiderte Lucrezia und dachte: Vielleicht war das Spiel doch noch nicht vorüber.
Christiano wendete die Kündigung von Lucrezia in seiner Hand. Es war das Beste, auch wenn es ihm leidtat, sie zu verlieren. Sie war nicht nur seine Geliebte gewesen, sondern auch eine hervorragende Anwältin. Er schlug einen Artikel auf, den sie veröffentlicht hatte.
Ausgezeichnet mit viel Lob in der akademischen und praktischen Welt. Er würde sie vermissen. Die Momente mit Lucrezia selber bereute er nicht, wie die Dinge am Ende gelaufen waren, dagegen sehr. Er war froh, dass sie ungeschoren davongekommen waren, dass er Anna und ihnen die Wahrheit hatte ersparen können. Lucrezia war jung und schön, sie würde darüber hinwegkommen. Dass sie die Patentante von Laura werden würde, hatte ihm erst nicht gefallen. Auch jetzt noch befiel ihn ein ungutes Gefühl. Jedoch hatte er noch weniger Lust gehabt, eine Diskussion zu führen. Letztlich hatte sie ihn beruhigt: „Christiano, wenn wir so tun, als ob uns drei nur Freundschaft verbindet, wird es eines Tages wirklich so sein. An die Vergangenheit wird sich niemand mehr erinnern.“
Sonnenstrahlen fielen durch die hohen Kirchenfenster und durchfluteten die kleine Dorfkirche. Anna blinzelte. Lucrezia hielt Laura in ihrem weißen Taufkleid im Arm, neben ihr stand Christiano. Annas Blick fiel auf die erste Sitzreihe, wo mit ein paar Tanten und Onkeln von Christiano Helene mit Antonio saß. Erstaunlich, die beiden schienen wirklich glücklich zu sein. Helene trug ein orangefarbenes Seidenkleid. Antonio sah in seinem dunklen Anzug aus wie Alain Delon. Anna wurde warm ums Herz. Der Pastor salbte Lauras Stirn. Für einen Augenblick sah Anna sich und Christiano vor zwei Jahren an dem Altar stehen und die Eheringe austauschen. Es war seine Idee gewesen, Laura hier taufen zu lassen. Sie sah Christiano von der Seite an. Sein Blick ruhte auf Lucrezia. Anna runzelte die Stirn und blickte zu Lucrezia. Lucrezia war wie immer in Schwarz gekleidet. Ihre feuerroten Fingernägel hoben sich von Lauras Kleid ab. Sie hatte sie nie gefragt, wer ihr Geliebter gewesen war, schoss
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