Kein Kanadier ist auch keine Lösung
sie in der Zeit zurück nach Neunzehnhundertlangsam. Gudrun hatte das Elternhaus übernommen, als ihre Schwester, Sandras Mutter, geheiratet hatte und auszog. Schwere dunkle Möbel, alte Teppiche, die deutlich zeigten, dass sich eine Menge reges Leben auf ihnen abgespielt hatte, silberne Bilderrahmen mit Schnappschüssen aus dem Leben von Verwandten, Spitzendeckchen auf kleinen polierten Tischen. Die Küche hätte sich gut in einem Museum gemacht. Über der alten Spüle hingen Regale mit Sammeltassen und allerlei Küchengerät, das in den Schränken und Vitrinen keinen Platz mehr fand. Jeder Trödelhändler würde auf der Stelle eine Erektion bekommen bei diesem Anblick.
Da war es schon wieder. Warum musste sie in letzter Zeit alles zweideutig sehen? Litt sie bereits unter fortgeschrittenem sexuellen Notstand? Sie schüttelte den Kopf.
„ Was ist los, Kleines?“
Gudrun verfügte über die Aufmerksamkeit eines Fuchses.
„ Ach, nichts Bestimmtes. Ich dachte nur gerade darüber nach, was mit meinem Sexleben nicht stimmt.“
Gudrun hatte den Braten auf einem Untersetzer abgestellt und prüfte mit einem Löffel die Konsistenz der darum herum dümpelnden Soße. Geschickt fischte sie eine weiche Karotte heraus.
„ Sexleben oder Liebesleben?“
Sandra stutzte. „Ist das nicht dasselbe?“
„ Aber nein. Ich sehe schon, wo dein Fehler liegt.“
„ Echt?“
Wie üblich war sie nicht nur wegen eines Mittagessens gekommen. Schon immer hatte sie die langen, tiefgründigen Gespräche mit ihrer Tante genossen und so manche Lebenshilfe von ihr erhalten. Neugierig lehnte sie sich auf dem Küchenstuhl nach vorn.
„ Ach so, du meinst, ich sollte nach Liebe suchen, nicht nur nach schnellem Sex.“
„ So ungefähr. Aber natürlich kommt es darauf an, was du wirklich willst. An Männerbekanntschaften mangelt es dir ja wohl nicht, aber anscheinend reicht dir das nicht mehr.“
Sandra runzelte die Stirn. Darüber hatte sie noch nicht nachgedacht. Ein völlig neuer Aspekt. Was wollte sie eigentlich?
„ Du meinst, mit zweiunddreißig fangen meine Hormone plötzlich an, sich nach Heirat zu sehnen? Das ist ja erschreckend.“
Gudrun hatte Fleisch und Soße separiert und rührte auf dem Herd eine braune Soße zusammen, für die Sandra ihren Erstgeborenen versprechen würde.
„ Was ist daran erschreckend?“
Präzise Fragen verlangten präzise Antworten. Komm auf den Punkt, sagte Tante Gudrun immer, red nicht lange um den heißen Brei, damit belügst du nur dich selbst.
„ Sich zusammenraufen müssen, hochgeklappte Klodeckel und besprenkelte Badezimmerkacheln, Sonntage vor der Sportschau hocken, Jogginghosen und Bierflaschen, unrasiertes Gesicht und schwere Deodorant-Entfremdung. Angst vor dem Kontakt mit dem Mülleimer und der Spülmaschine, Streitereien um Kleinigkeiten, Meckereien, Kontrolle und Einschränkungen.“
Gudrun hörte mit dem Rührlöffel in der Hand schweigend zu und verzog keine Mine.
„ Was ist? Willst du nichts dazu sagen?“, fragte Sandra.
„ Ich dachte du bist noch nicht fertig.“
Als ob das nicht genug wäre, dachte Sandra, doch sie sprach es nicht aus. An den amüsierten Lachfältchen ihrer Tante konnte sie sehen, dass es ironisch gemeint war.
„ Das klingt verbittert, was?“, gab sie zu und strich sich eine etwas zu kurze Haarsträhne aus dem Gesicht.
Sie musste dringend zum Frisör. Ihr volles Haar hatte alle nur denkbaren Längen. Der Chaos-Look war längst nicht mehr in , aber sie liebte ihn an sich. Er unterstrich ihre Persönlichkeit und ließ sie noch unberechenbarer wirken. Bis kurz über die Schultern wippte ihre leicht naturgewellte Mähne, womit sie für gewöhnlich mehr männliche Nacken drehte als die Vereinigung der Chiropraktiker. Ihre Kollegin Bärbel nannte es den after-sex-look . Sandra mochte sich lieber mit Meg Ryan vergleichen, niedlich, verspielt und verträumt, die Frisur stets in kontrollierter Unordnung. Sie bezweifelte allerdings, von Männern als niedlich, verspielt oder verträumt bezeichnet zu werden.
„ Nein, nicht verbittert. Eher verängstigt“, meinte Gudrun.
Sie spürte eine beklemmende Resonanz in ihrer Magengegend bei dieser Bemerkung. Immer musste Tantchen den Daumen auf die Wunde legen, darin war sie meisterhaft. Und immer wieder kam Sandra zu ihr, um sich foltern zu lassen. Sie musste masochistisch veranlagt sein.
„ Autsch.“
„ Das tut weh, was?“ Gudrun fuhr fort mit Töpfen und Tellern zu hantieren. „Gut. Dann sind wir auf dem
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