Kein Kinderspiel
Boston. In Vietnam hatte er den Silver Star verliehen bekommen und war - Überraschung! - ein erstklassiger Schütze. Sein Lieutenant sagte, Corporal Raftopoulos könne, und hier zitiere ich, >einer Tsetsefliege aus fünfzig Metern das Arschloch wegblasen<.« Er schüttelte den Kopf. »Diese Jungs von der Army, die haben so eine lebhafte Phantasie!«
»Und Sie glauben…«
»Ich glaube, daß wir drei uns mal unterhalten müssen, Mr. Kenzie.«
Ich trat einen Schritt zurück und sah ihn mir genauer an. Er war mindestens 1,85 Meter groß. Das perfekt frisierte rotblonde Haar, sein lockeres Benehmen und der Schnitt seiner Kleidung sprachen für einen Mann mit Geld in der Familie. Jetzt erkannte ich ihn auch: Er war der Zuschauer, der heute nachmittag im Harvard-Stadion alleine hinten auf der Tribüne gesessen hatte. Er hatte sich auf den Sitz gelümmelt, die langen Beine auf das Geländer gelegt und sich die Baseballkappe tief in die Stirn gezogen. Ich konnte mir gut vorstellen, daß er sich nach dem Studium in Yale nicht hatte entscheiden können, ob er nun als Anwalt arbeiten oder sich bei der Regierung bewerben sollte. Beides bot die Möglichkeit, ein politisches Amt zu übernehmen, sobald das Haar an seinen Schläfen den richtigen, vertrauenerweckenden Grauton aufwies. Doch wenn er für den Staat arbeitete, durfte er eine Waffe tragen. Da war ihm die Entscheidung nicht schwergefallen.
»Hat mich gefreut, Neal.« Ich ging um das Auto herum zur Fahrertür.
»Das war kein Witz, als ich gesagt habe, er bringt euch um.«
Angie kicherte. »Und Sie wollen uns wahrscheinlich retten, wie?«
»Ich bin beim Justizministerium.« Er legte eine Hand auf die Brust. »Kugelsicher.«
Über das Dach des Crown Victoria sah ich ihn an. »Aber nur, weil Sie immer hinter den Menschen stehen, die Sie eigentlich schützen sollen, Neal.«
»Ups.« Er fuhr sich mit der Hand über die Brust. »Super Spruch, Pat.«
Angie schlug die Tür zu, ich tat es ihr nach. Als ich den Wagen anließ, klopfte Neal Ryerson an Angies Fenster. Sie runzelte die Stirn und sah mich an. Ich zuckte mit den Achseln. Dann ließ sie langsam die Scheibe herunter, und Neal Ryerson ging in die Hocke, einen Arm ins offene Fenster gestützt.
»Ich muß euch sagen, daß ihr einen riesengroßen Fehler macht, wenn ihr nicht hört, was ich zu sagen habe.«
»Wir haben schon viele Fehler gemacht«, erwiderte Angie.
Er lehnte sich zurück und zog an seiner Zigarre, blies den Rauch aber aus, bevor er sich wieder vorbeugte.
»Als ich klein war, nahm mich mein Vater immer mit zum Jagen in die Berge, nicht weit von unserem Wohnort entfernt, der hieß Boone, in North Carolina. Und vom ersten Mal an, als ich acht war, bis zu meinem achtzehnten Geburtstag hat mir mein Daddy nur eins eingebleut. Man muß nur auf eins wirklich aufpassen, nur auf eins: nicht auf den Elch oder das Reh, sondern nur auf die anderen Jäger.«
»Sehr tiefschürfend«, sagte Angie.
Er lächelte. »Und deshalb, Pat und Angie…«
»Nennen Sie ihn bloß nicht Pat«, sagte Angie. »Er haßt das.«
Er hielt die Hand mit der Zigarre hoch. »Entschuldigung, Patrick. Wie soll ich das sagen? Der Feind ist unter uns. Verstehen Sie? Und er wird sich bald auf die Suche nach Ihnen machen.« Mit der dünnen Zigarre wieserauf mich. »Er hat sich heute sogar schon mit Ihnen unterhalten, Patrick. Wie lange wartet er noch, bis er aufrüstet? Er weiß genau, daß Sie früher oder später wieder vorbeikommen und die falschen Fragen stellen, auch wenn Sie sich im Moment ruhig verhalten. Mensch, deswegen seid ihr doch heute abend hier zu Nick Raftopoulos gefahren, oder? Ihr habt gehofft, er könnte euch ein paar von euren falschen Fragen beantworten. Jetzt könnt ihr fahren. Ich kann euch nicht aufhalten. Aber er läßt euch nicht in Ruhe. Die ganze Sache wird eskalieren.«
Ich sah Angie an, sie entgegnete meinen Blick. Der Rauch von Ryersons Zigarre stahl sich ins Auto und setzte sich in meinen Lungen fest.
Angie wandte sich wieder zu ihm und schob ihn mit einer Handbewegung vom Fenster fort. »Das Blue Diner«, sagte sie, »kennen Sie das?«
»Höchstens sechs Häuserblöcke entfernt von hier.«
»Bis gleich«, antwortete sie, und wir fuhren aus der Parklücke zur Ausfahrt.
Von außen sieht das Blue Diner abends wirklich cool aus. Als einziges Neonlicht in der Kneeland Street im Gewerbegebiet am Ende des Leather Districts schwebt eine große weiße Kaffeetasse über dem Namenszug »Blue Diner«, so daß die
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