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Kein Kinderspiel

Kein Kinderspiel

Titel: Kein Kinderspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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man’s, würde ich sagen, hat man’s reichlich schwer. Man braucht ‘ne Zeitlang, bis man weiß, was man will, bis man seinen eigenen Weg findet. Das gilt nicht nur für Helene. Ich meine, ich hatte ganz schön große Probleme, hab’ mit Mitte Zwanzig großen Ärger mit dem Gesetz gehabt. Ich war nicht gerade ein Engel.«
    »Lionel«, mahnte seine Frau.
    Er hob die Hand, als sei dies seine einzige Chance, diese Sätze auszusprechen. »Ich hatte Glück. Ich hab’ Beatrice kennengelernt, hab’ mein Leben in Ordnung gebracht. Was ich damit sagen will, Mr. Kenzie, Miss Gennaro: Wenn man ein bißchen Zeit bekommt, eine kleine Pause, dann wird man erwachsen. Dann kann man die Scheiße hinter sich lassen. Meine Schwester, die versucht immer noch, erwachsen zu werden, glaube ich. Vielleicht. Sie hat ein schweres Leben gehabt und…«
    »Lionel«, wiederholte seine Frau, »hör endlich auf, dich für Helene zu entschuldigen!« Beatrice McCready fuhr sich mit der Hand durch das kurze rotblonde Haar und sagte: »Schatz, setz dich bitte.«
    Lionel begann erneut: »Ich versuche nur zu erklären, warum es Helene nicht leicht gehabt hat.«
    »Das hast du auch nicht«, unterbrach ihn Beatrice, »aber du bist ein guter Vater.«
    »Wie viele Kinder haben Sie?« fragte Angie.
    Beatrice lächelte. »Einen Jungen. Matt. Er ist fünf. Er ist bei meinem Bruder und seiner Frau, bis wir Amanda wiederfinden.«
    Bei der Erwähnung seines Sohnes schien Lionel ein wenig größer zu werden. »Er ist ein toller Kerl«, sagte er und schämte sich beinahe seines Stolzes.
    »Und Amanda?« fragte ich.
    »Die ist auch ein wunderbares Mädchen«, erwiderte Beatrice. »Und sie ist viel zu klein, um allein herumzulaufen.«
    Amanda McCready war vor drei Tagen aus unserem Stadtteil verschwunden. Seitdem war ganz Boston, so schien es, auf der Suche nach ihr. Die Polizei hatte mehr Personal aktiviert als bei der Jagd nach John Salvi, der vor vier Jahren einen Bombenanschlag auf eine Abtreibungsklinik verübt hatte. Der Bürgermeister hatte eine Pressekonferenz abgehalten, auf der er gelobte, Amandas Fall habe absolute Priorität vor jeder städtischen Angelegenheit, bis sie gefunden werde. Die Medien stürzten sich auf die Story: Jeden Morgen gab es Berichte auf den Titelseiten von beiden Bostoner Zeitungen, sie war der Aufmacher der drei großen Fernsehsendungen abends, stündlich wurden zwischen Seifenopern und Talkshows Updates gesendet.
    Doch nach drei Tagen gab es noch keine Spur von ihr.
    Amanda McCready war vier Jahre und sieben Monate auf dieser Welt, als sie verschwand. Ihre Mutter hatte sie am Sonntag abend zu Bett gebracht und gegen halb neun noch einmal nach ihr gesehen. Am nächsten Morgen, um kurz nach neun, war sie an Amandas Bett getreten und hatte nichts weiter gefunden als Laken und Bettdecke, die noch die knittrigen Abdrücke ihrer Tochter trugen.
    Die Kleidung, die Helene McCready für ihre Tochter herausgelegt hatte - ein rosa T-Shirt, Jeanshose, rosa Socken und weiße Turnschuhe -, war weg. Ebenso Amandas blonde Lieblingspuppe, die eine beunruhigende Ähnlichkeit mit ihrer Besitzerin aufwies und von ihr Pea genannt wurde. Im Zimmer fanden sich keine Anzeichen eines Kampfes.
    Helene und Amanda wohnten in der ersten Etage eines zweigeschossigen Hauses, und obwohl es möglich war, daß Amanda entführt worden war, indem jemand, um sich Eintritt zu verschaffen, eine Leiter unter ihr Schlafzimmerfenster gestellt und die Scheibe hochgeschoben hatte, so war es doch unwahrscheinlich. Fensterscheibe und Fensterbank wiesen keine Spuren auf, und in der Erde unter ihrem Fenster fanden sich keine Abdrücke einer Leiter.
    Wenn man davon ausging, daß eine Vierjährige sich nicht plötzlich in den Kopf setzte, mitten in der Nacht das Haus zu verlassen, dann war viel wahrscheinlicher, daß der Entführer die Wohnung durch die Eingangstür betreten hatte, ohne das Schloß aufbrechen oder die Tür aus den Angeln heben zu müssen. Solche Anstrengungen waren bei einer nicht verschlossenen Tür nämlich nicht nötig.
    Als das bekannt wurde, hatte Helene McCready in den Medien ordentlich Prügel bezogen. Vierundzwanzig Stunden nach dem Verschwinden ihrer Tochter textete die News, Bostons Antwort auf die New York Post, die Schlagzeile auf der Titelseite: Hereinspaziert! Mutter der kleinen Amanda ließ Tür auf Unter der Schlagzeile prangten zwei Fotos: eins von Amanda und eins von der Wohnungstür. Die Tür stand sperrangelweit offen, was, wie die

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