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Kein Kinderspiel

Kein Kinderspiel

Titel: Kein Kinderspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dennis Lehane
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Glockenturms verhallten. Dann ging ich zum Fenster und sah ihnen nach, während sie den Schulhof neben der Kirche überquerten und zu einem heruntergekommenen Dodge Aries gingen. Die Sonne war nach Westen aus meinem Blickfeld verschwunden, und der Oktoberhimmel war noch immer sommerlich hell, durchsetzt von einigen rostroten Schlieren.
    Eine Kinderstimme rief: »Vinny, warte! Vinny!« Und selbst vier Stockwerke höher klang sie irgendwie einsam und unfertig. Das Auto von Beatrice und Lionel wendete auf der Straße, und ich sah dem qualmenden Auspuff nach, bis sie aus meinem Blickfeld verschwunden waren.
    »Ich weiß nicht«, sagte Angie und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Sie legte die Füße auf den Schreibtisch und schob ihr langes, dichtes Haar nach hinten. »Ich weiß wirklich nicht, was wir machen sollen.«
    Sie trug eine schwarze Radlerhose und ein weites schwarzes Sonnentop über einem engen weißen. Auf dem schwarzen Top stand vorne in weiß NINE INCH NAILS geschrieben, hinten war PRETTY HATE MACHINE zu lesen. Sie besaß es schon seit mindestens acht Jahren, doch sah es immer noch aus, als trüge sie es zum ersten Mal. Ich lebte jetzt seit fast zwei Jahren mit Angie zusammen. Soweit ich beobachtet hatte, pflegte sie ihre Kleidung nicht besser als ich meine, und trotzdem sahen meine Hemden immer aus, als wären sie durch den Dreck gezogen worden, obwohl ich erst eine halbe Stunde zuvor das Preisschild entfernt hatte. Sie dagegen besaß Socken aus ihrer High-School-Zeit, die noch immer weiß wie Schnee waren. Frauen und ihre Kleidung -das war eins der Mysterien, die ich niemals verstehen würde. Genauso ein Rätsel wie der Verbleib von Amelia Earhart oder der Glocke, die früher in diesem Kirchturm hing.
    »Mit diesem Fall?« fragte ich. »Wie meinst du das?«
    »Ein vermißtes Mädchen, eine Mutter, die nicht richtig nach ihr sucht, eine aufdringliche Tante…«
    »Findest du, daß Beatrice aufdringlich war?«
    »So aufdringlich wie ein Zeuge Jehovas mit einem Fuß in der Tür.«
    »Sie macht sich Sorgen um die Kleine. Ist ganz verzweifelt. «
    »Das verstehe ich ja auch.« Sie zuckte mit den Achseln. »Trotzdem hab ich’s nicht gerne, wenn man mich drängt.«
    »Stimmt, das gehört nicht zu deinen Vorzügen.«
    Sie warf einen Bleistift nach mir und traf mich am Kinn. Ich rieb mir die Stelle und suchte den Stift, um ihn zurückzuwerfen.
    »Das ist nur so lange lustig, bis der erste ein Auge verliert«, murmelte ich und tastete unter dem Schreibtischstuhl nach dem Stift.
    »Uns geht’s ziemlich gut«, stellte sie fest.
    »Stimmt.« Der Stift lag nicht unter dem Stuhl und dem Schreibtisch, soweit ich es erkennen konnte.
    »Wir haben jetzt schon mehr verdient als im ganzen letzten Jahr.«
    »Und es ist erst Oktober.« Kein Bleistift auf dem Boden und unter dem Mini-Kühlschrank. Vielleicht war er bei Amelia Earhart, Amanda McCready und der Glocke.
    »Ja, erst Oktober«, bestätigte sie.
    »Du meinst also, wir brauchen diesen Fall nicht.«
    »So ungefähr.«
    Ich ließ den Bleistift Bleistift sein und blickte aus dem Fenster. Die rostroten Schlieren waren inzwischen blutrot, und der helle Himmel hatte eine blaue Farbe angenommen. Im zweiten Stock des Hauses gegenüber war die erste Glühbirne des Tages eingeschaltet worden. Die Luft roch nach Jugend und Brennball, nach langen, unbeschwerten Tagen, die in lange, unbeschwerte Abende übergingen.
    » Findest du nicht?« fragte Angie nach einer Weile.
    Ich zuckte mit den Achseln.
    »Sprechen Sie jetzt oder schweigen Sie für immer!« sagte sie leichthin.
    Ich drehte mich um und sah sie an. Die Dämmerung hinter ihr glänzte golden und warf einen Schimmer auf ihr dunkles Haar. Durch den langen, trockenen Sommer, der sich bis weit in den Herbst erstreckte, war ihre honigfarbene Haut dunkler als sonst, und ihre Muskeln an Waden und Oberarm waren durch die täglichen Basketballspiele auf dem Ryan-Spielplatz stärker ausgeprägt.
    Bei meinen früheren Beziehungen gehörte das Aussehen der Frauen immer zu den ersten Dingen, die ich übersah, wenn ich einige Male mit ihnen geschlafen hatte. Vom Kopf her wußte ich, daß sie schön waren, doch verlor ich nach und nach die Fähigkeit, mich davon überraschen oder überwältigen zu lassen, ja, mich daran zu berauschen. Aber bei Angie war das anders: Jeden Tag gab es Augenblicke, in denen ich sie ansah und spürte, wie mich ein süßer Schmerz durchfuhr.
    »Was?« Ihr breiter Mund verzog sich zu einem Grinsen.
    »Nichts«,

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