Kein Kinderspiel
Polizei korrigierte, an dem Morgen von Amanda McCreadys Verschwinden nicht der Fall gewesen war. Unverschlossen schon. Aber nicht sperrangelweit auf.
Den meisten Menschen in der Stadt war dieser Unterschied jedoch egal. Helene McCready hatte ihre vierjährige Tochter in einer unverschlossenen Wohnung allein gelassen und war ins Nachbarhaus zu ihrer Freundin Dottie Mahew gegangen. Dort sahen die beiden fern: zwei Sitcoms und den Film der Woche Her Father’s Sins mit Suzanne Somers und Tony Curtis. Nach den Nachrichten guckten sie noch eine Weile die Wochenendausgabe von Entertainment Tonight, dann ging Helene nach Hause.
Gute dreieinviertel Stunden lang war Amanda McCready in einer unverschlossenen Wohnung allein gewesen. Irgendwann mußte sie entweder von alleine gegangen oder entführt worden sein.
Angie und ich hatten den Fall genauso gespannt verfolgt wie jeder in Boston, und wir waren genauso ratlos wie alle. Wir wußten, daß sich Helene McCready einem Lügendetektortest unterzogen und bestanden hatte. Die Polizei fand keine einzige Spur, die sie verfolgen konnte; es ging das Gerücht, daß Hellseher eingeschaltet worden waren. An jenem warmen Abend im Indian Summer waren die meisten Fenster geöffnet, und auf der Straße schlenderten Fußgänger. Aber die Nachbarn, die auf der Straße gewesen waren, sagten übereinstimmend aus, nichts Auffälliges gesehen und nichts gehört zu haben, das wie das Schreien eines Kindes klang. Niemand konnte sich erinnern, eine Vierjährige allein herumlaufen oder eine verdächtige Person gesehen zu haben, die ein Kind oder ein ungewöhnliches Bündel bei sich trug.
Soweit zu beurteilen war, war Amanda McCready so vollständig verschwunden, als hätte sie nie existiert.
Beatrice McCready, ihre Tante, hatte uns am Nachmittag angerufen. Ich sagte ihr, daß wir meiner Meinung nach nicht viel für ihre Nichte tun könnten, was nicht schon hundert Polizisten, die Hälfte der Presse von Boston und Tausende von Bürgern taten.
»Mrs. McCready«, sagte ich zu ihr, »sparen Sie Ihr Geld.«
»Ich hätte lieber meine Nichte zurück«, antwortete sie.
Da saßen Angie und ich nun an diesem Mittwoch in unserem Büro im Glockenturm der Kirche St. Bartholomew in Dorchester und hörten den Ausführungen von Amandas Tante und Onkel zu. Vom Feierabendverkehr unten auf der Straße drang entferntes Motorengebrumm zu uns herauf.
»Wer ist Amandas Vater?« wollte Angie wissen.
Wieder schien sich das Gewicht auf Lionels Schultern zu legen. »Das wissen wir nicht. Wir glauben, der Typ heißt Todd Morgan. Er ist sofort abgehauen, als Helene schwanger wurde. Seitdem hat keiner mehr was von ihm gehört.«
»Aber die Liste möglicher Väter ist lang«, ergänzte Beatrice.
Lionel sah zu Boden.
»Mr. McCready«, sagte ich.
Er blickte zu mir auf. »Lionel.«
»Gut, Lionel«, wiederholte ich. »Setzen Sie sich doch.«
Er quetschte sich mühsam auf einen schmalen Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtisches.
»Dieser Todd Morgan«, begann Angie erneut, nachdem sie den Namen auf einen Block geschrieben hatte, »weiß die Polizei, wo er sich aufhält?«
»In Mannheim in Deutschland«, erwiderte Beatrice. »Er ist bei der Army dort stationiert. Und er war in der Kaserne, als Amanda verschwand.«
»Haben sie ihn als Verdächtigen ausgeschlossen?« fragte ich. »Wurde ausgeschlossen, daß er einen Freund mit der Entführung beauftragt hat?«
Lionel räusperte sich und sah wieder zu Boden. »Die Polizei sagt, er schämt sich für meine Schwester und glaubt sowieso nicht, daß Amanda von ihm ist.« Wieder blickte er mich mit seinen traurigen, gutmütigen Augen an. »Angeblich hat er gesagt: >Wenn ich einen Schmarotzer haben will, der die ganze Zeit rumscheißt und -schreit, dann kann ich auch einen in Deutschland kriegen.<«
Ich konnte spüren, wie sehr es ihn schmerzte, seine Nichte einen Schmarotzer zu nennen, und nickte. »Erzählen Sie mir von Helene!« forderte ich ihn auf.
Es gab nicht viel zu erzählen. Helene McCready war Lionels vier Jahre jüngere Schwester, das heißt, sie war achtundzwanzig. Schon in ihrem ersten Jahr war sie von der Monsignor Ryan Memorial High School geflogen, hatte aber den Abschluß, obwohl sie immer davon sprach, nie nachgeholt. Mit siebzehn war sie mit einem fünfzehn Jahre älteren Kerl durchgebrannt. Zusammen hatten sie sechs Monate lang auf einem Campingplatz in New Hampshire gelebt. Dann kehrte Helene mit rot und blau geschlagenem Gesicht nach Hause zurück.
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