Kein Kinderspiel
‘n bißchen Gras«, gab Lionel zu.
»Ein bißchen?« hakte ich nach. »Oder viel?«
»Was ist viel?« fragte Lionel.
»Hat sie eine Wasserpfeife auf dem Nachttisch?« Angie sprach Klartext.
Lionel blinzelte sie an.
»Sie ist von keiner bestimmten Droge abhängig«, antwortete Beatrice. »Sie probiert mal dies und mal das.«
»Koks?« fragte ich.
Sie nickte, und Lionel starrte sie sprachlos an.
»Pillen?« •
Beatrice zuckte mit den Achseln.
»Spritzt sie?« fragte ich weiter.
»Oh nein!« rief Lionel.
Beatrice erklärte: »Soweit ich weiß, nicht.« Sie dachte kurz darüber nach. »Nein. Sie ist den ganzen Sommer über in kurzen Hosen und Sonnentop herumgelaufen. Wir hätten die Einstiche gesehen.«
»Moment mal!« Lionel hob die Hand. »Moment mal, bitte. Ich denke, wir suchen nach Amanda und reden hier nicht über die schlechten Angewohnheiten meiner Schwester.«
»Wir müssen alles über Helene, über ihre Gewohnheiten und Freunde wissen«, legte ihm Angie dar. »Wenn ein Kind vermißt wird, liegen die Gründe dafür meistens im häuslichen Umfeld.«
Lionel erhob sich und warf einen Schatten auf den Schreibtisch. »Was soll das heißen?«
»Setz dich doch!« mahnte ihn Beatrice.
»Nein. Ich will jetzt wissen, was das heißen soll. Wollen Sie damit sagen, meine Schwester könnte etwas mit Amandas Verschwinden zu tun haben?«
Angie ließ ihn nicht aus den Augen. »Sagen Sie’s mir!«
»Nein!« rief er aus. »Verstanden? Nein.« Er blickte auf seine Frau herab. »Sie ist kein Verbrecher, verstanden? Sie ist eine Mutter, die ihre Tochter verloren hat. Verstanden?«
Beatrice sah mit unergründlichem Blick zu ihm auf.
»Lionel«, sagte ich.
Er starrte zuerst seine Frau und dann Angie an.
»Lionel«, sagte ich erneut, und er drehte sich zu mir um. »Sie haben selbst gesagt, es kommt Ihnen vor, als sei Amanda wie vom Erdboden verschluckt. Gut. Fünfzig Polizisten suchen nach ihr. Vielleicht noch mehr. Sie beide haben sich drum gekümmert. Die Leute hier in der Gegend …«
»Ja«, unterbrach er mich. »Alle haben geholfen. Das war klasse.«
»Gut. Wo ist sie also?«
Er sah mich an, als würde ich sie plötzlich aus einer Schublade hervorzaubern.
»Ich weiß es nicht.« Er schloß die Augen.
»Keiner weiß es«, bestätigte ich. »Und wenn wir uns diesen Fall genau ansehen - und damit habe ich nicht gesagt, daß wir das tun…«
Beatrice richtete sich auf dem Stuhl auf und schaute mich mit festem Blick an.
»Aber wenn, dann müssen wir von der Annahme ausgehen, daß sie von jemandem entführt wurde, der ihr nahesteht. «
Lionel setzte sich wieder. »Also glauben Sie, daß sie jemand mitgenommen hat?«
»Sie nicht?« fragte Angie. »Wenn eine Vierjährige von zu Hause ausreißt, kann sie nicht drei Tage lang herumlaufen, ohne von jemandem gesehen zu werden.«
»Ja«, sagte er langsam, als akzeptiere er eine Wahrheit, die er schon geahnt, aber nicht hatte erkennen wollen. »Ja. Wahrscheinlich haben Sie recht.«
»Und, was tun wir jetzt?« fragte Beatrice.
»Soll ich ehrlich sein?« sagte ich zu ihr.
Sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite, ließ mich aber nicht aus den Augen. »Ich weiß nicht genau.«
»Sie haben einen Sohn, der bald in die Schule kommt. Stimmt’s?«
Beatrice nickte.
»Sparen Sie das Geld und stecken Sie es in seine Ausbildung.«
Beatrice bewegte sich nicht; sie hielt den Kopf leicht nach rechts geneigt, aber einen Augenblick lang sah es aus, als habe sie eine Ohrfeige bekommen. »Also wollen Sie diesen Fall nicht annehmen, Mr. Kenzie?«
»Ich weiß nicht, ob das Sinn hat.«
Beatrice erhob die Stimme in unserem kleinen Büro: »Ein Kind wird …«
»Vermißt«, ergänzte Angie. »Ja. Aber es suchen schon viele Leute nach ihr. Es steht in allen Zeitungen. Jeder in dieser Stadt, wahrscheinlich jeder in ganz Massachusetts weiß, wie sie aussieht. Glauben Sie mir, die meisten Menschen halten Ausschau nach ihr.«
Beatrice sah Lionel an. Er zuckte kaum merklich mit den Schultern. Dann sah sie mir wieder fest in die Augen. Sie war eine kleine Frau, höchstens einen Meter sechzig. Sie hatte ein blasses, herzförmiges Gesicht, das mit Sommersprossen übersät war, hellrot wie ihr Haar. Ihre Stupsnase und das Kinn waren kindlich rund, und die Wangenknochen erinnerten an Kieselsteine. Aber gleichzeitig strahlte sie eine Unerbittlichkeit aus, als bedeute Aufgeben für sie Sterben.
»Ich bin zu Ihnen beiden gekommen«, sagte sie, »weil Sie Menschen finden. Das ist Ihr
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