Kein Lebenszeichen
es Ärger gab, damit er seine Wut an jemandem auslassen konnte. Ich dachte an Squares’ Worte, dass er gar nicht so anders gewesen sei als der Ghost. Ich dachte an die Macht der Vergangenheit, daran, was Squares durchgemacht hatte, was Sheila durchgemacht
hatte, und wunderte mich, woher sie die Kraft genommen hatten, gegen die Springflut zu schwimmen.
Wieder klingelte das Telefon.
Ich sah in mein Bier. Ich gehöre nicht zu denen, die ihre Probleme einfach in Alkohol ertränken können. Fast wünschte ich, es wäre anders. Ich wollte in Bewusstlosigkeit versinken, doch genau das Gegenteil geschah. Es war, als hätte man mir bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen, so dass ich jetzt alles spürte. Meine Arme und Beine waren unglaublich schwer geworden. Ich hatte Angst, unterzugehen, zu ertrinken, fühlte mich, als wäre mein Kopf nur wenige Zentimeter von der Oberfläche entfernt, konnte mich aber nicht befreien, weil meine Beine von unsichtbaren Händen festgehalten wurden.
Ich wartete, bis der Anrufbeantworter sich einschaltete. Nach dem dritten Klingeln hörte ich das Klicken, dann meine Stimme, die sagte, dass man nach dem Piepton eine Nachricht hinterlassen könne. Als es gepiept hatte, hörte ich eine ansatzweise bekannte Stimme.
»Mr Klein?«
Ich setzte mich auf. Die Frau auf dem Anrufbeantworter versuchte, ein Aufschluchzen zu unterdrücken.
»Hier ist Edna Rogers. Sheilas Mutter.«
Meine Hand schoss nach vorne und schnappte den Hörer. »Ich bin am Apparat«, sagte ich.
Als Antwort fing sie an zu weinen. Ich weinte mit ihr.
»Ich hätte nicht gedacht, dass es so wehtut«, sagte sie, nachdem sie sich etwas beruhigt hatte.
Allein in unserer einst gemeinsamen Wohnung fing ich an, mich vor und zurück zu wiegen.
»Es ist so lange her, dass ich sie aus meinem Leben gestrichen habe«, fuhr Mrs Rogers fort. »Sie war nicht mehr meine Tochter. Ich hatte noch mehr Kinder. Sie war verschwunden. Ein für
alle Mal. Das war keine Absicht. Es hat sich einfach so ergeben. Sogar als der Polizeichef bei uns war und erzählt hat, dass sie tot ist, habe ich nicht reagiert. Ich habe nur genickt und es auf mich genommen. Sie verstehen, was ich meine?«
Ich verstand es nicht. Ich antwortete nicht. Ich hörte nur zu.
»Und dann haben sie uns hierher geflogen. Nach Nebraska. Sie haben gesagt, die Fingerabdrücke haben sie schon, sie müsste aber noch offiziell von einem Angehörigen identifiziert werden. Also sind Neil und ich nach Boise zum Flugplatz gefahren und hergeflogen. Sie haben uns in diese kleine Polizeiwache gebracht. Im Fernsehen sind die Leichen immer hinter Glas. Wissen Sie? Man steht draußen, dann wird die Leiche reingeschoben und da ist eine Glaswand dazwischen. Aber hier nicht. Sie haben mich in ein Büro gebracht, und da lag dieses … dieses leblose Ding, das sie mit einem Laken zugedeckt hatten. Sie lag nicht mal auf einer Bahre. Sie lag auf dem Tisch. Und dann hat dieser Mann das Laken zurückgezogen, und ich habe ihr Gesicht gesehen. Zum ersten Mal seit vierzehn Jahren habe ich Sheilas Gesicht gesehen …«
Ihre Gefühle überwältigten sie. Sie begann zu weinen, und es dauerte lange, bis sie weitersprechen konnte. Ich hielt den Hörer ans Ohr und wartete.
»Mr Klein«, sagte sie.
»Bitte nennen Sie mich Will.«
»Sie haben sie geliebt, Will, nicht wahr?«
»Sehr.«
»Und Sie haben sie glücklich gemacht?«
Ich dachte an den Diamantring. »Ich hoffe es.«
»Ich bleibe über Nacht hier in Lincoln. Morgen früh fliege ich nach New York.«
»Das ist schön«, sagte ich. Ich erzählte ihr von dem Gedenkgottesdienst.
»Haben wir hinterher Zeit zum Reden?«, fragte sie.
»Selbstverständlich.«
»Es gibt da noch ein paar Sachen, die ich wissen muss«, sagte sie. »Und es gibt Sachen – ein paar ziemlich hässliche Dinge –, die ich Ihnen erzählen muss.«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
»Wir sehen uns morgen, Will. Dann reden wir.«
In der Nacht hatte ich Besuch.
Um ein Uhr morgens klingelte es an der Tür. Ich nahm an, dass es Squares war. Schwerfällig stand ich auf und schlurfte durchs Zimmer. Dann fiel mir der Ghost wieder ein. Ich drehte mich um. Die Pistole lag immer noch auf dem Tisch. Ich blieb stehen.
Wieder klingelte es.
Ich schüttelte den Kopf. Nein. Ganz so verwirrt war ich dann doch nicht. Jedenfalls noch nicht. Ich ging zur Tür und sah durch den Spion. Doch da stand weder Squares noch der Ghost.
Es war mein Vater.
Ich öffnete die Tür. Wir standen da
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