Kein Lebenszeichen
Sheilas Gedenken komponiert hatte. Es war das Traurigste und Süßeste, das ich je gehört hatte. Lisa, siebzehn und laut ärztlicher Diagnose manisch-depressiv, berichtete,
dass Sheila die Einzige gewesen war, mit der sie hatte reden können, als sie erfahren hatte, dass sie schwanger war. Sammy erzählte eine komische Geschichte, wie Sheila versucht hatte, ihm beizubringen, nach dieser »Weiße-Tussen-Mucke« zu tanzen. Der sechzehnjährige Jim beschrieb der Trauergemeinde, wie er sich endgültig aufgegeben hatte und tatsächlich so weit war, dass er Selbstmord begehen wollte, doch als Sheila ihn angelächelt hatte, sei ihm klar geworden, dass es wirklich Gutes auf dieser Welt gab. Sheila hatte ihm den Mut gegeben, noch einen Tag weiterzuleben. Und dann noch einen.
Ich kämpfte gegen den Schmerz an und versuchte, genau zuzuhören, weil ich das den Jugendlichen schuldig war. Dieser Ort bedeutete mir viel. Er hatte uns viel bedeutet. Und wenn einmal Zweifel an unserem Erfolg aufkamen, wenn wir nicht wussten, ob wir wirklich helfen konnten, dachten wir immer daran, dass sich alles um die Kids drehte. Sie waren nicht niedlich. Die meisten waren hässlich, und es war schwer, sie zu lieben. Viele lebten ein schreckliches Leben, endeten im Gefängnis oder auf der Straße, oder sie starben einfach jung. Doch das bedeutete nicht, dass wir aufgeben durften. Ganz im Gegenteil. Es bedeutete, dass wir sie umso mehr lieben mussten. Bedingungslos. Dass wir vor nichts zurückschrecken durften. Sheila hatte das gewusst. Es war ihr wichtig gewesen.
Sheilas Mutter – ich ging zumindest davon aus, dass es Sheilas Mutter war – kam etwa zwanzig Minuten nach Beginn der Zeremonie. Sie war groß gewachsen. Ihr Gesicht wirkte trocken und spröde, als hätte es zu lange in der Sonne gelegen. Unsere Blicke trafen sich. Sie sah mich fragend an, und ich nickte ihr bestätigend zu. Im Laufe des Gottesdienstes drehte ich mich gelegentlich zu ihr um. Sie saß ganz ruhig da und lauschte fast ehrfürchtig den Worten über ihre Tochter.
Einmal, als die ganze Gemeinde sich erhob, sah ich etwas, das
mich überraschte. Ich hatte mich nach vertrauten Gesichtern umgesehen, als ich eine bekannte Gestalt entdeckte, die den größten Teil ihres Gesichts unter einem Schal versteckt hatte.
Tanya.
Die entstellte Frau, die den Mistkerl Louis Castman »pflegte«. Auch hier musste ich raten. Ich war mir allerdings ziemlich sicher. Sie hatte die gleiche Frisur, die gleiche Größe und den gleichen Körperbau, und obwohl ihr Gesicht größtenteils verdeckt war, kam mir ihre Augenpartie doch bekannt vor. Ich hatte nicht darüber nachgedacht, aber es konnte natürlich sein, dass Sheila und Tanya sich aus ihren gemeinsamen Tagen auf der Straße gekannt hatten.
Wir setzten uns wieder.
Squares war als Letzter dran. Seine Rede war eloquent, komisch und beschwor ein unglaublich lebendiges Bild von Sheila herauf. Das hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Er erzählte den Kids, dass Sheila »eine von euch« gewesen war, eine Ausreißerin, die gegen ihre eigenen Probleme angekämpft hatte. Er erinnerte uns an ihren ersten Tag im Covenant House. Er erzählte, wie sie aufgeblüht war. Aber vor allem, sagte er, hätte er miterlebt, wie sie sich in mich verliebt hatte.
Ich fühlte mich leer. Man hatte mir die Seele herausgerissen, und wieder erschauderte ich bei dem Gedanken, dass ich diesen Schmerz für den Rest meines Lebens mit mir herumtragen musste, dass ich ihm nie entkommen würde, dass ich herumrennen und nach irgendeiner inneren Wahrheit suchen konnte, solange ich wollte, und dass das im Endeffekt alles nichts ändern würde. Die Trauer würde nicht von meiner Seite weichen. Statt Sheila war ab jetzt sie meine ständige Begleiterin.
Als die Rede beendet war, wussten wir alle nicht recht, was wir tun sollten. Wir saßen noch etwas unbehaglich da und keiner rührte sich, bis Terrell wieder anfing, Trompete zu spielen.
Die Leute standen auf. Sie weinten, und viele umarmten mich. Ich weiß nicht, wie lange ich so dastand und das Ganze auf mich einwirken ließ. Ich war dankbar für die vielen Gefühlsäußerungen, doch ich vermisste Sheila dadurch nur noch mehr. Wieder geriet ich in eine Art Trance. Es war mir einfach alles zu viel. Ohne diese Trancezustände hätte ich das Ganze nicht überstanden.
Ich sah mich nach Tanya um, doch sie war verschwunden.
Jemand verkündete, dass es in der Cafeteria etwas zu essen gebe. Die Trauernden schoben sich langsam dorthin.
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