Kein Lebenszeichen
vor Schmerz. Er kam nicht aus dem Bett. Jetzt betrachtete er die dreckigen Männer im Casino. Als er jünger war, hätte Morty sie als geborene Verlierer bezeichnet. Aber sie alle hatten eine Erklärung dafür, dass sie hier waren. Sie hätten genauso gut mit einem großen V für Verlierer am Hintern zur Welt kommen können. Mortys Eltern, Einwanderer aus einem Schtetl in Polen, hatten Opfer für ihn gebracht. Sie hatten sich in dieses Land geschlichen, durch einen riesigen Ozean von allem getrennt, was sie kannten, in furchtbarer Armut gelebt und mit allen erdenklichen Mitteln gekämpft – damit ihr Sohn es einmal besser hatte. Sie hatten sich früh zu Tode geschuftet, gerade so lange durchgehalten, dass sie noch miterlebten, wie Morty sein Medizinstudium beendete, und so sahen, dass ihr Kampf Früchte getragen und sich das Schicksal der Familie ein für alle Mal zum Besseren gewendet hatte. Sie waren zufrieden gestorben.
Morty bekam eine Sechs und dann eine Sieben. Er ließ sich noch eine Karte geben und bekam eine Zehn. Überkauft. Auch die nächste Runde verlor er. Mist. Er brauchte das Geld. Locani, ein Buchmacher alter Schule mit knallharten Geldeintreibern, wollte Bares sehen. Morty, ein absoluter Verlierer, wenn man es recht bedachte, hatte ihn bremsen können, indem er ihm Informationen verkaufte. Er hatte Locani von dem maskierten Mann und der verletzten Frau erzählt. Anfangs schien das Locani nicht zu interessieren, doch die Geschichte machte die Runde, und plötzlich wollte jemand alles ganz genau wissen.
Morty erzählte ihm fast alles.
Er sagte nichts über den Mitfahrer auf dem Rücksitz, und das würde er auch nicht tun. Er wusste nicht, was da vorging, aber es gab Sachen, die machte nicht einmal er. So tief er auch gesunken war, davon würde Morty nichts erzählen.
Er bekam zwei Asse. Er splittete sie. Ein Mann setzte sich neben ihn. Morty spürte ihn mehr, als dass er ihn sah. Er spürte ihn in seinen alten Knochen wie eine aufkommende Schlechtwetterfront. Er drehte den Kopf nicht, fürchtete sich, so absurd das auch klingen mochte, schon davor, ihn nur anzusehen.
Der Geber bediente beide Blätter. Ein König und ein Bube. Morty hatte gerade zwei Blackjacks bekommen.
Der Mann beugte sich zu ihm und flüsterte: »Machen Sie Schluss, solange Sie noch im Plus sind, Morty.«
Morty drehte sich langsam um und sah einen Mann mit grauen, verwaschenen Augen und einer Haut, die nicht nur weiß, sondern fast durchscheinend wirkte. Er meinte fast jede Ader erkennen zu können. Der Mann lächelte.
»Es ist vielleicht Zeit«, ging das silbrige Flüstern weiter, »sich den Gewinn auszahlen zu lassen.«
Morty versuchte, nicht zu erschauern. »Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?«
»Wir müssen uns unterhalten«, sagte der Mann.
»Worüber?«
»Über einen bestimmten Patienten, der kürzlich Ihre geschätzte Praxis aufgesucht hat.«
Morty schluckte. Warum hatte er Locani das verraten? Er hätte ihn mit etwas anderem – irgendetwas anderem – hinhalten sollen. »Ich hab alles gesagt, was ich weiß.«
Der blasse Mann legte den Kopf schief. »Stimmt das wirklich, Morty?«
»Ja.«
Der Blick aus den verwaschenen Augen lastete schwer auf
ihm. Beide Männer sahen sich reglos und schweigend an. Morty spürte, dass er rot wurde. Er versuchte, sich aufzurichten, merkte jedoch, wie er immer weiter in sich zusammensank.
»Das glaube ich Ihnen nicht, Morty. Ich glaube, Sie verheimlichen etwas.«
Morty sagte nichts.
»Wer war in dieser Nacht noch im Wagen?«
Er starrte seine Chips an und versuchte, deutlich zu antworten. »Wovon reden Sie überhaupt?«
»Da war noch jemand, stimmt’s, Morty?«
»Hey, lassen Sie mich zufrieden, ja? Ich hab hier gerade eine Glückssträhne.«
Während er sich von seinem Stuhl erhob, schüttelte der Ghost den Kopf. »Nein, Morty«, sagte er und legte ihm sanft eine Hand auf den Arm. »Ich glaube, das Glück hat Sie gerade verlassen.«
24
Der Gedenkgottesdienst fand im Auditorium von Covenant House statt.
Squares und Wanda saßen rechts von mir, mein Vater links. Dad hatte seinen Arm hinter mich gelegt und rieb mir gelegentlich den Rücken. Es fühlte sich gut an. Der Raum war rappelvoll, vor allem mit Jugendlichen. Sie umarmten mich, weinten und erzählten, wie sehr sie Sheila vermissten. Die Veranstaltung dauerte fast zwei Stunden. Terrell, ein Vierzehnjähriger, der sich für zehn Dollar an Freier verkauft hatte, spielte ein Lied auf der Trompete, das er zu
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