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Kein Lebenszeichen

Kein Lebenszeichen

Titel: Kein Lebenszeichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Coben
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und sahen uns an, als wären wir weit voneinander entfernt. Er war außer Atem. Seine Augen waren geschwollen und gerötet. Ich stand regungslos da und spürte, wie in mir alles zusammenbrach. Er nickte, streckte die Arme aus und winkte mich zu sich. Ich sank in seine Arme. Ich drückte meine Wange in seinen kratzigen Wollpullover. Der roch alt und klamm. Ich fing an zu weinen. Er beruhigte mich, streichelte mir übers Haar und zog mich näher an sich heran. Ich spürte, wie meine Beine nachgaben. Aber ich fiel nicht. Mein Vater hielt mich aufrecht. Er hielt mich sehr lange aufrecht.

23
    Las Vegas
     
    Morty Meyer splittete die Zehnen. Er zeigte der Geberin, dass er beide spielte. Auf die erste fiel eine Neun, auf die zweite ein Ass. Neunzehn auf das erste Blatt. Und ein Blackjack.
    Er hatte eine Glückssträhne. Achtmal hatte er jetzt hintereinander gewonnen, zwölf der letzten dreizehn Spiele – satte elf Riesen. Morty hatte sich warmgespielt. Das flüchtige Sieger-High kribbelte ihm in Armen und Beinen. Es war fantastisch. Es gab nichts Besseres. Morty hatte gelernt, dass das Glücksspiel die ultimative Verführerin war. Lief man ihr nach, strafte sie einen mit Verachtung, sie wies einen zurück, so dass man sich schlecht fühlte, und dann, wenn man schon bereit war, sie sausen zu lassen, lächelte sie einen an, legte einem ihre warme Hand an die Wange, liebkoste einen sanft, und das fühlte sich gut an, so verdammt gut …
    Die Geberin war überkauft. Ah, noch ein Sieg. Die Geberin, eine Hausfrau mit übertrieben blondierten, strohigen Haaren, fegte die Karten zusammen und schob ihm seine Chips zu. Morty war am Gewinnen. Ja, trotz allem, womit diese Affen von Gamblers Anonymus, den anonymen Spielsüchtigen, hausieren gingen, konnte man im Casino tatsächlich gewinnen. Irgendjemand musste ja schließlich gewinnen, oder? Man brauchte sich nur mal die Quoten anzusehen. Das Haus konnte nicht jeden schlagen. Scheiße, beim Würfeln konnte man sogar auf der Seite des Hauses spielen. Also gab es natürlich ein paar Gewinner. Ein paar Leute nahmen Geld mit nach Hause. Ging ja gar nicht anders. Alles andere war unmöglich. Zu behaupten, dass keiner gewann, war nur ein Beispiel für die haltlosen Übertreibungen der GA, durch die die Organisation ihre Glaubwürdigkeit
verlor. Und wie sollte man sich ihnen anvertrauen, wenn sie einen schon von Anfang an belogen?
    Morty spielte in Las Vegas – dem echten Las Vegas, im Stadtzentrum  –, nicht in einer der Touristenfallen, in denen Besucher in Wildlederimitat und Turnschuhen herumliefen, ohne Pfeifen und Schreien und Freudengekreisch, ohne falsche Freiheitsstatuen oder Eiffeltürme, hier spielte kein Cirque du Soleil, hier stand keine Achterbahn, es gab keine 3-D-Filme, keine Gladiatoren-Kostüme, keine tanzenden Springbrunnen, keine Pseudo-Vulkane oder kindgerechte Spielhallen. Er war im echten Las Vegas. Hier spielten Männer mit schmutzigen Fingernägeln, die es gemeinsam gerade einmal auf ein vollständiges Gebiss gebracht hätten, und immer, wenn einer die Schulter hängen ließ, rieselte etwas Staub aus seinem Pick-up-Truck auf den Fußboden, während ihm der Inhalt seiner kläglichen Lohntüte durch die Finger rann. Die Spieler waren erschöpft, ihre Augen trüb, die Gesichter zeigten von der Sonne und den harten Zeiten tief eingebrannte Falten. Die Männer hatten den ganzen Tag in Jobs geschuftet, die sie hassten. Sie waren hier, weil sie nicht nach Hause in ihre Trailer oder andere Bleiben mit kaputtem Fernseher, schreienden Babys und der verkommenen Ehefrau wollten, die früher auf der Ladefläche des Pick-ups so zärtlich gewesen war und die ihn jetzt mit unverhohlenem Widerwillen betrachtete. Hier spürten sie etwas, das der Hoffnung wohl noch am nächsten kam, den vagen Glauben, dass nur ein Gewinn sie von einem neuen und besseren Leben trennte. Doch das hielt nicht lange vor. Morty wusste nicht einmal, ob es diesen Glauben wirklich gab. Tief im Inneren wussten die Spieler, dass es einfach nicht passieren würde. Sie würden immer die Getretenen bleiben. Es war ihr Los, ein Leben voller Enttäuschungen zu führen, immer nur von außen das Gesicht an die Scheibe zu pressen.

    Die Geber wechselten. Morty lehnte sich zurück. Er starrte auf seinen Gewinn, und wieder fiel der alte Schatten auf ihn herab: Er vermisste Leah. Beim Aufwachen drehte er sich immer noch gelegentlich zu ihr um, und wenn ihm wieder einfiel, dass sie nicht mehr da war, verzehrte er sich

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