Kein Lebenszeichen
dir wissen, was wir getan hätten, wenn es umgekehrt gewesen wäre. Hätten wir Julie der Polizei übergeben? Oder hätten wir versucht, ihr zu helfen?«
Als ihr Vater sich abwandte, sah er Katy in der Tür stehen. Ihre Blicke trafen sich, und wie schon so oft konnte er dem ihren nicht standhalten. Ohne jedes weitere Wort stürmte Warren Miller die Treppe hinauf. Er verschwand im neuen »Computerzimmer« und schloss die Tür hinter sich. Das »Computerzimmer« war Julies altes Zimmer. Neun Jahre lang war es unverändert geblieben, so wie es an Julies Todestag gewesen war. Plötzlich und ohne Vorwarnung hatte ihr Vater dann alles zusammengepackt und im Keller verstaut. Er hatte die Wände weiß gestrichen und bei Ikea einen Computertisch gekauft. Jetzt war es das Computerzimmer. Manche glaubten darin zu erkennen, dass er einen Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen hatte, oder sahen es zumindest als Zeichen dafür, dass er wieder nach vorne schaute. Das Gegenteil war der Fall. Der ganze Vorgang war forciert, ein Sterbender wollte beweisen, dass er das Bett verlassen konnte, aber eigentlich ging es ihm dadurch nur noch schlechter. Katy hatte das Computerzimmer nie betreten. Seit man dem Zimmer nicht mehr ansah, dass Julie je hier gelebt hatte, war ihr Geist irgendwie aggressiver geworden. Man musste sich jetzt auf die Erinnerung verlassen statt auf
seine Augen. Man beschwor herauf, was man gar nicht sehen sollte.
Lucille Miller ging in die Küche. Katy folgte ihr schweigend. Ihre Mutter fing an abzuwaschen. Katy sah zu und wünschte sich – wie schon so oft –, etwas sagen oder tun zu können, das es für ihre Mutter nicht noch schlimmer machte. Ihre Eltern sprachen nie mit ihr über Julie. Niemals. Im Lauf der Jahre hatte sie sie ein halbes Dutzend Mal dabei ertappt, wie sie sich über den Mord unterhielten. Das Ende war immer das gleiche. Schweigen und Tränen.
»Mom?«
»Ist schon in Ordnung, Schatz.«
Katy trat näher an sie heran. Ihre Mutter scheuerte fester in einem Topf herum. Katy sah, dass die Haare ihrer Mutter grauer geworden waren. Ihr Rücken war gebeugter, die Haut blasser.
»Hättest du’s getan?«, fragte Katy.
Ihre Mutter antwortete nicht.
»Hättest du Julie bei der Flucht geholfen?«
Lucille Miller scheuerte weiter. Sie räumte die Spülmaschine ein. Sie füllte das Waschmittel ein und schaltete sie an. Katy wartete noch einen Moment. Doch ihre Mutter sagte nichts.
Katy schlich auf Zehenspitzen die Treppe hinauf. Aus dem Computerzimmer hörte sie das gequälte Schluchzen ihres Vaters. Die geschlossene Tür dämpfte das Geräusch, trotzdem war es deutlich zu hören. Katy blieb stehen und legte die Hand an die Tür. Sie glaubte, die Schwingungen vielleicht spüren zu können. Die Schluchzer ihres Vaters waren immer unerbittlich und kamen aus tiefster Seele. Mit erstickter Stimme flehte er immer wieder: »Bitte nicht mehr«, als bäte er einen unsichtbaren Peiniger inständig, ihm eine Kugel in den Kopf zu schießen.
Katy blieb stehen und lauschte, doch sein Schluchzen ließ nicht nach.
Dann hielt sie es nicht mehr aus und musste sich abwenden. Sie ging in ihr Zimmer, packte ihre Kleidung in einen Rucksack und schickte sich an, all dem ein für alle Mal ein Ende zu setzen.
Ich saß immer noch mit hochgezogenen Knien im Dunkeln.
Es ging auf Mitternacht zu. Ich ließ das Telefon klingeln und hörte mit, wenn mir jemand etwas auf den Anrufbeantworter sprach. Normalerweise hätte ich ihn und das Telefon stumm gestellt, doch die Realitätsverleugnung war noch so stark, dass ich hoffte, Pistillo würde sich melden und mir mitteilen, dass ihnen ein Riesenfehler unterlaufen sei. So ist der Verstand. Er sucht nach Auswegen. Er schließt Abkommen mit Gott. Er macht Versprechungen. Er versucht, sich selbst zu überzeugen, dass es vielleicht doch noch Gnade geben könnte, dass alles nur ein Traum ist, ein extrem bösartiger Albtraum, und dass es irgendwie doch noch einen Weg zurück gibt.
Nur einmal war ich ans Telefon gegangen. Squares hatte angerufen. Er erzählte mir, dass die Kids im Covenant House morgen einen Gedenkgottesdienst für Sheila abhalten wollten. Ob das in Ordnung wäre? Ich antwortete, dass Sheila das vermutlich gefallen hätte.
Ich sah aus dem Fenster. Wieder kreiste der Bus um den Block. Klar, Squares. Er versuchte, mich zu beschützen. Er war die ganze Nacht im Kreis gefahren. Mir war klar gewesen, dass er in der Nähe bleiben würde. Wahrscheinlich hoffte er, dass
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