Kein Lord wie jeder andere (German Edition)
tun haben, stört. Bei diesem Patienten hat sich die Arroganz zu einer regelrechten Hysterie ausgewachsen; er ist nicht mehr in der Lage, mit Menschen, die er für unter sich stehend wahrnimmt, in Kontakt zu treten. Behandlung: nüchterne Umgebung, kalte Bäder, Bewegung, Stromschläge. Regelmäßige Züchtigung, um die Tobsuchtsanfälle zu unterdrücken. Meine Herren, die Behandlung hat Erfolg. Der Patient ist deutlich ruhiger geworden.
Wenn Ian »ruhiger« geworden war, dann nur, weil er begriffen hatte, dass man ihn in Ruhe ließ, wenn er seine Wut unterdrückte und nicht mehr unaufgefordert sprach. Er lernte, sich wie ein Automat zu verhalten, wie ein Aufziehspielzeug. Sobald er von diesem Verhalten abwich, wurde er bestraft, man sperrte ihn stundenlang in eine winzige Kammer, jagte ihm Stromschläge durch den Körper oder prügelte ihn Nacht für Nacht. Verhielt er sich wieder wie ein Aufziehspielzeug, ließen die Peiniger von ihm ab.
Wenigstens war es ihm erlaubt, Bücher zu lesen und Unterricht zu nehmen. Ians Geist war rastlos, sog alles gierig in sich auf. Sprachen lernte er innerhalb weniger Tage. In nur einem Jahr steigerte er sich von einfachen Rechenarten bis hin zur höheren Mathematik. Jeden Tag las er ein Buch und kannte sofort lange Passagen auswendig. Er fand Trost in der Musik, spielte Klavier nach Gehör, lernte allerdings nie Notenlesen. Die Hälse und Köpfe und Fähnchen waren ihm ein einziges schwarzes Durcheinander auf dem Papier.
Auch blieben ihm die Bereiche der Logik, Ethik und Philosophie verschlossen. Zwar konnte Ian Sätze von Aristoteles, Sokrates und Platon wiedergeben, aber er verstand sie nicht, konnte sie nicht deuten.
Standesdünkel und Groll gegen die eigene Familie haben zu einer Blockade im Gehirn geführt, verkündete Dr. Edwards einem begeisterten Publikum. Lesen und auswendig hersagen kann er, aber verstehen tut er nichts. Er zeigt kein Interesse an seinem Vater, fragt nie nach ihm, schreibt ihm nicht. Auch deutet nichts darauf hin, dass er seine gute, selige Mutter vermisst.
Dr. Edwards bekam nie mit, wenn Ian nachts ins Kissen weinte, einsam und allein, die Dunkelheit fürchtend. Eines war ihm klar: Wenn der Vater käme, dann nur, um ihn für das Gesehene umzubringen.
Ians einzige Freunde waren die Dienstboten in der Anstalt, Mägde, die ihm heimlich Zuckerwerk aus der Küche zusteckten und Wein aus dem Dienstbotenquartier brachten. Auch halfen sie ihm, die Zigarren, die Mac brachte, und die schmutzigen Heftchen, die Cameron bei seinen Besuchen dabeihatte, zu verstecken.
Lies die nur , hatte Cameron ihm augenzwinkernd zugeflüstert. Damit du auch weißt, wo bei einer Frau alles liegt und wofür es da ist .
Mit siebzehn war Ian in die Liebe eingeweiht worden, von der plumpen goldblonden Magd, die jeden Morgen seinen Kamin reinigte. Zwei Jahre lang hielten sie die Liaison geheim, dann heiratete sie den Kutscher und begann ein neues Leben. Ian bat Hart, ihr zur Hochzeit mehrere hundert Guineen zu schenken, verriet aber nie den Grund.
Das war nun schon sehr lange her. Ians Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück, doch die war trostlos und entsetzlich. Er saß allein in der Dunkelheit mit zugezogenen Vorhängen, während Beth mit dem Tod rang. Starb sie, könnte er sich ebenso gut wieder in die Anstalt einweisen lassen, denn ohne sie würde er verrückt werden.
Bald darauf traf Isabella ein. Ihre Röcke raschelten sanft beim Eintreten, ein Blick auf Beth, und die Tränen schossen ihr in die Augen.
»Es tut mir ja so leid, Ian.«
Ian war außerstande, etwas zu erwidern. Isabella sah erschöpft aus, sie nahm Beths Hand und hob sie an ihre Lippen.
»Ich habe unten mit dem Doktor gesprochen«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. »Er sagte, es gäbe kaum noch Hoffnung.«
»Dieser Quacksalber.«
»Sie ist glühend heiß.«
»Ich lasse sie nicht sterben.«
Isabella ließ sich aufs Bett sinken, hielt noch immer Beths Hand. »Meistens trifft es die gütigsten Menschen. Sie werden dem Leben entrissen, um uns Demut zu lehren.«
»Zum Henker.«
Isabella sah mit einem schwachen Lächeln zu ihm auf. »Du bist dickköpfig wie ein MacKenzie.«
»Ich bin ein MacKenzie.« Wie konnte sie nur so etwas Dummes sagen. »Ich lasse sie nicht sterben, kann es nicht.« Teilnahmslos lag Beth da, gab leise Laute von sich.
»Sie fantasiert«, flüsterte Isabella.
Ian befeuchtete ein Tuch und benetzte damit Beths Zunge, ihre Stimme war kaum mehr als ein Krächzen. Wimmernd sog
Weitere Kostenlose Bücher