Kein Opfer ist vergessen
beste Arbeit sein, die Sie jemals verrichten werden. Aber sie wird Sie auch wie keine andere fordern. Darüber hinaus wird sie Ihnen zeigen, ob Sie sich auf Ihren Instinkt verlassen können.«
Z schüttelte die Eisstücke in ihrer Cola und saugte am Strohhalm, bis nichts mehr kam. Dann warf sie den Becher in die Richtung der Mülltonne, die sie um einiges verfehlte. »Sie sind für dieses Seminar ausgewählt worden, weil Sie die Besten sind. So hat man es mir jedenfalls gesagt. Ich habe in meiner Karriere zwei Mal den Pulitzerpreis bekommen und weiß demnach, was Begabung ist. Wenn man mich fragt, liegt das Auswahlkomitee bei gut fünfzig Prozent seiner Entscheidungen richtig. Was auch bedeutet, dass hier mindestens einer von Ihnen fehl am Platz ist. Wer, wird sich im Lauf der Zeit herausstellen. So, und jetzt begeben wir uns in den Raum am Ende des Flurs, und ich führe Sie in unser Ablagesystem ein.«
Z stand auf. Sarah und ich taten es ihr gleich.
»Ich habe schon einen Fall.« Jake Havens fläzte sich auf seinem Stuhl. »Der Mann heißt James Harrison. Vor vierzehn Jahren wurde er in Chicago wegen Mordes an einem Vierzehnjährigen verurteilt.«
Z lächelte. »Mr Havens. Schön, dass Sie mitmachen. Aber wir konzentrieren uns weniger auf die Fälle aus Illinois. Der Staat hat die Todesstrafe abgeschafft.«
Havens hob den Kopf und sah Z an. »Ich dachte, es ginge um unseren Instinkt.«
»Ich habe keineswegs gesagt, dass wir uns die Fälle aus Illinois nicht ansehen können. Sondern nur, dass sie aus Gründen der Einheitlichkeit vielleicht nicht an erster Stelle stehen.«
»Sie sind aber nicht alle einheitlich.«
»Was soll das heißen?«
»Harrison ist tot, damit fängt es schon mal an. Nach vierzehn Monaten Haft hat ihm jemand eine Klinge in den Hals gerammt.« Havens kam nach vorn und setzte sich auf den Platz neben Sarah. Er zog eine dicke Akte aus seinem verschlissenen Rucksack hervor und ließ sie auf den Tisch fallen. »Das ist alles, was ich auftreiben konnte. Hauptsächlich Zeitungsausschnitte. Und die Originalfassung des Polizeiberichts.«
Z ignorierte die Akte und betrachtete Havens. »Und warum sollen wir uns mit einem Fall beschäftigen, in dem der Verurteilte gestorben ist?«
»Macht sein Tod ihn weniger unschuldig?«
Z kniff die Lippen zusammen. Na toll. Schon am ersten Tag hatten wir den Prof sauer gemacht.
»Mr Havens, wie wäre es, wenn wir uns nach dem Seminar weiter darüber unterhalten?«
Havens holte einen zerknitterten grauen Briefumschlag aus seinem Rucksack und legte ihn neben die Akte.
»Haben Sie noch etwas für uns?« Zs Stimme war zusammen mit ihren Brauen in die Höhe gewandert.
»Es ist ein Brief, Madam.«
»Das sehe ich.«
»Den ich vor vier Tagen erhalten habe.«
»Mit der Post?«
Sarah und ich setzten uns wieder. Sie neigte sich zur Seite und warf einen Blick auf den Umschlag. »Er ist nicht frankiert.«
»Der Umschlag steckte unter meiner Wohnungstür.«
»Wann, Mr Havens?«
»Das habe ich schon gesagt. Vor vier Tagen.«
Z nickte. »Und weiter?«
Ich spürte, dass sich etwas verschoben hatte. Z war nicht länger die Lehrerin. Und Jake Havens nicht mehr bloß ein Schüler.
»Ich stand morgens auf, entdeckte den Umschlag unter meiner Tür und öffnete ihn.«
»Wer hat ihn sonst noch angefasst?«
»Niemand.«
»Sind Sie sicher?«
»Ziemlich sicher.«
»Und was meinen Sie, hat dieser Brief zu bedeuten?«
»Ich weiß , was er bedeutet. Es ist eine Nachricht des Mörders. Des wahren Mörders.«
Z durchquerte den Seminarraum zur Tür, schloss sie und kehrte mit einer Schachtel Latexhandschuhe zurück. Jeder von uns zupfte ein Paar heraus und streifte es über. Wie gebannt sah ich auf den Umschlag und fand, dass Zs Vorsichtsmaßnahmen die Sache noch um einiges spannender machte. Z nahm den Umschlag und studierte ihn. Man sah, dass die Adresse fehlte. Nur der Name Jake Havens stand darauf, in Druckbuchstaben und mit schwarzer Tinte geschrieben.
»War er zugeklebt?«, erkundigte sie sich.
Jake schüttelte den Kopf. Z zuckte mit den Schultern und öffnete den Umschlag. Behutsam zog sie den Inhalt heraus: eine Seite, auf der auch irgendetwas in Blockschrift stand. Sie legte sie auf den Tisch und strich sie glatt. Wir alle beugten uns darüber und lasen den kurzen Text.
98-2425 … Ich hab den Jungn gekilt.
»Das ist noch nicht alles.« Wieder griff Havens in seinen Rucksack. Diesmal zog er einen kleinen Stofffetzen hervor und legte ihn zu dem Brief. Bevor
Weitere Kostenlose Bücher