Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kein Opfer ist vergessen

Kein Opfer ist vergessen

Titel: Kein Opfer ist vergessen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Harvey
Vom Netzwerk:
ich.
    Die beiden trugen Sneakers. Sarah hatte Nikes, Havens New Balance.
    »Ziemlich verbreitet«, sagte ich. »Dürften nicht groß auffallen.«
    Havens musterte mich, mit einer Mischung aus Neugier und erstmals vielleicht sogar Respekt. Zu unserer Linken raschelte es im Gebüsch. Wir standen in der Dunkelheit und sahen uns an. Keiner gab einen Ton von sich. Als Nächstes hörte ich etwas knacken, als hätte jemand sein Gewicht verlagert, um bequemer zu stehen. Stumm bedeutete ich Havens und Sarah, zu bleiben, wo sie waren. Dann schlüpfte ich durch die Sträucher, die rechts von der Höhle wuchsen. Der Mond stand wie eine Scheibe hinter den Klippen und verwandelte den Abhang in eine Welt aus schwarzen und violetten Schatten. Ohne ein Steinchen loszutreten, glitt ich an ihm entlang in die Tiefe. Unten angekommen, wandte ich mich nach links in den Wald und stieß auf einen Pfad, der zurück zur Höhle führte. Auf dem Weg nahm ich einen Stein auf, größer als meine Faust, glatt und schwer. Er lag gut in meiner Hand.
    Vor mir erhob sich ein hoher, geschälter Baumstumpf. Ich drückte mich mit dem Rücken halb um ihn herum und erkannte durch das Gewirr der Sträucher den großen Felsbrocken am Ufer, der im Mondlicht bläulich glänzte. Vor mir zogen sich die Baumreihen wie Schachfiguren zum Fluss. Zur Rechten begann nach vielleicht fünfzig Metern wild wuchernde Vegetation. Ich fokussierte meinen Blick und ordnete das Bild vor meinen Augen. Aus dem struppigen Geäst wurden Büsche und Zweige, bucklige Wurzeln, die einen großen flachen Fels umgaben. Auf dem Fels hockte irgendetwas. Etwas, das atmete.
    Ein gelbes Augenpaar starrte konzentriert den Hang hoch. In Richtung Höhle. Ein Lidschlag. Ein leises Stöhnen. Es klang so sehnsüchtig, dass es auf meinem Nacken zu kribbeln begann. Mein Magen verkrampfte sich. Ich legte mich auf den Bauch und robbte weiter vor. Nach etwa dreißig Metern hörte ich über mir ein Schaben. Jemand kroch über den Felsen. Gesteinsbrocken rollten den Hang hinab, gefolgt von schlurfenden Lauten. Über der Felskante tauchte ein gelbes Augenpaar auf. Dann erhob sich eine Silhouette, und jemand sah mich an, als hätte er die ganze Zeit gewusst, dass ich da war. Dann war er weg. Ich stand auf. Irgendwo in der Nähe war Havens, der meinen Namen flüsterte, aber mir schien es, als würde er ihn durch die Finsternis brüllen.
    »Ich bin hier«, sagte ich und bahnte mir einen Weg durch die Büsche. Havens zog mich nach unten.
    »Da war irgendwas«, erklärte ich. »Als du den Hang heruntergekommen bist, hast du es in die Flucht geschlagen.«
    »Irgendwas?«, fragte er. »Mensch oder Tier?«
    »Konnte ich nicht erkennen.«
    »Dann vergiss es«, sagte Havens. »Wir haben größere Probleme. Eindeutig menschlicher Natur. Komm mit.«

NEUN
    Der Mann mit den gelben Augen lief leise und geschmeidig durch den Wald. Geschickt wich er Ästen, Wurzeln, Büschen und Baumstämmen aus, die knorrig und struppig in die Dunkelheit stachen. Die Polizei zu verständigen und dann zu der Leiche zurückzukehren, war gefährlich gewesen, und doch hatte er nicht widerstehen können. Aber er hatte sich vorgesehen und seinen Fluchtweg geplant. Falls ihm trotzdem jemand folgen würde … Er umschloss den Griff des Messers, das er an einer Kordel um den Hals trug. Auch für den Fall hatte er vorgesorgt.
    Nach einer halben Meile trat er aus dem Wald in eine kleine Straße des Wohngebiets. Sein Herzschlag lag knapp über sechzig. Lautlos wie eine Katze schlich er den Bordstein entlang und dachte an die Begegnung im Wald. Da hatte er etwas Vertrautes gespürt. Etwas, das ihn beunruhigte. Er bog um die Ecke in die Devon Avenue. Weniger als eine Meile entfernt, gab es eine Bahnstation. Wie der Zufall es wollte, kam er dort just in dem Moment an, als der Zug Richtung Innenstadt einfuhr.

ZEHN
    Jake und ich kraxelten den Hang hoch. Sarah saß ein gutes Stück von dem Höhleneingang entfernt auf dem Boden. Als wir die Kuppe erreicht hatten, wurde mir klar, was Havens gemeint hatte. Die Lichter mehrerer Taschenlampen näherten sich von dem großen Parkplatz des Naturschutzgebiets, strichen über die Bäume und kamen direkt auf uns zu. Auf dem Parkplatz rotierten vier oder fünf Blaulichter. Polizeiwagen. Ich packte Sarahs Arm, zog sie hoch und bedeutete Havens, uns zu folgen. Wir liefen geduckt voran und umrundeten die Felsen in weitem Radius. Ich warf einen Blick zurück. Die Lichter waren näher gekommen. Ich hörte das Knistern

Weitere Kostenlose Bücher