Kein Opfer ist vergessen
Boden. Jake Havens stand über ihr und hatte ein Messer in der Hand.
»Ganz ruhig«, sagte ich.
Havens ließ das Messer aufblitzen, klappte es zusammen und steckte es in seine Jackentasche. Es war eine einzige, fließende Bewegung, wie geschaffen für einen Wald und die einbrechende Dunkelheit. Er bückte sich und legte zwei Finger auf Sarahs Kehle. Erst da fiel mir auf, dass ihre Augen geschlossen waren und sich unter der dünnen Haut an ihrer Schläfe eine Beule gebildet hatte. Havens hob Sarah hoch, trug sie zu einem Grasfleck und legte sie ab. Dann verschwand er in der Dämmerung. Eine Minute später kehrte er mit einem in Wasser getränkten Tuch zurück, benetzte damit Sarahs Gesicht und wickelte es um ihren Hals.
»Sie ist die Böschung hinuntergefallen.« Havens stand mit dem Rücken zu mir und deutete auf den Abhang. Ich hätte einen schweren Stein aufheben und ihm damit eins überbraten können, aber darüber schien er sich keine Gedanken zu machen.
»Ist mit ihr alles in Ordnung?«, fragte ich.
»Ihr Puls ist kräftig. Lass ihr noch eine Minute Zeit.« Havens wandte sich um. Im letzten Licht des Tages wirkten seine Gesichtszüge wie gemeißelt. »Du blutest.«
»Ein Dornbusch.« Ich fuhr mit dem Handrücken über meine Wange. Sarah stöhnte leise und begann sich zu regen.
»Wie fühlst du dich?« In Havens’ Stimme lag etwas Zärtliches, das mich überraschte. Sarah lächelte, als sie es hörte. Meine Überraschung schlug in Eifersucht um.
»Heh, Sarah. Alles in Ordnung?« Ich kniete mich neben sie.
»Ja, mir ist nur ein bisschen schwindelig.«
Havens hatte eine Taschenlampe dabei und leuchtete ihr in die Augen. »Deine Pupillen reagieren. Kannst du aufstehen?«
Er half ihr auf die Beine.
»Mir geht’s gut.« Sarah betastete ihre Beule. »Damit sehe ich bestimmt super aus.«
Havens lächelte. »Du kannst so was tragen, Gold.«
»Danke. Würdest du uns jetzt vielleicht erklären, was du hier überhaupt tust?« Sie hatte sich den Kopf angeschlagen, aber ihre Stimme klang fest. Ihre Selbstsicherheit kehrte zurück. Zumindest ein Teil davon.
»Was glaubst du denn?« Havens richtete seinen Blick auf mich.
»Ich habe keinen Schimmer«, entgegnete ich.
Seine Hand wedelte nach links. »Fünf Meter von uns entfernt fließt der Chicago River.«
»Und?«
»Da hat er ihn umgebracht.«
»Wen?«, fragte Sarah.
Havens machte einen Schritt auf den Fluss zu. »Na, wen wohl. Skylar Wingate natürlich.«
—
Havens führte uns zu dem Grab. Außer einer dunklen Vertiefung war nichts mehr zu erkennen. Und doch konnte ich in dem verblassenden Licht alles vor mir sehen: wie die Leiche des Jungen aus dem Wasser gezogen wurde, triefend nass und glänzend, und wie sie reglos am Ufer lag und trocknete. Fersen, die im Schlamm zwei Spuren hinterließen, als er zu dieser Stelle geschleift wurde. Wie er da lag, mit offenem Mund und schlaffen Gliedern, eine Hand halb geöffnet. Wie das Grab ausgehoben – vielleicht noch einmal tiefer gegraben wurde. Wie er hineingeworfen wurde. Ein dumpfer Aufprall, als er auf dem Grund landete. Wie die Erde über ihn geschaufelt wurde, wegen der geöffneten Augen zuerst über sein Gesicht. Dann kam der Rest, wurde mit Erde zugedeckt, mit nasser, schwerer Erde, in der noch winzige Kriechtiere lebten. Ich konnte sie hören, die Hände, die auf die weiche Erddecke klopften. Spürte sie im Kribbeln auf meinem Nacken. Kalte Hände, an denen Lehmklumpen hafteten. Ich warf einen Blick auf Sarah und sah wieder das kleine Mädchen. Nur dass es diesmal lautlos schrie.
»Er ist nicht mehr da«, sagte ich.
»Ich weiß.«
Ich nahm ihre Hand und versuchte, sie zu wärmen. Havens war zum Flussufer zurückgegangen, hatte uns allein am Grab eines Jungen gelassen, den wir nicht kannten. Sein Rufen drang durch die Bäume. Wir wandten uns von dem Grab ab und gingen zu ihm. Die Erinnerung an Skylar Wingate schwebte uns hinterher.
SECHS
Havens saß auf einem Felsbrocken, der wie ein schwarzer Zahn aus dem Ufer stach. Sarah und ich setzten uns ins Gras zu seinen Füßen. So wie Havens es gern hat , dachte ich.
»Die Polizei nimmt an, dass er genau an dieser Stelle aus dem Wasser gezogen wurde.« Havens wies auf den Fluss in seinem Rücken. Inzwischen war die Dunkelheit vollkommen, und die Wasseroberfläche kräuselte sich im Mondlicht.
»Das war vor gut vierzehn Jahren«, sagte ich. »Abgesehen davon, weiß ich noch immer nicht, warum du hier bist.«
»Es geht um das Gesamtbild,
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