Kein Opfer ist vergessen
uns langsam weiter vor. Je näher wir dem Haus kamen, desto verfallener sah es aus. Die Treppenstufen zur Veranda waren geborsten, ein Geländer war abgebrochen und lag hinter dem Haus im Gras. Links und rechts des Hauses wuchsen struppige Hecken, und zwischen zwei Bäumen war eine alte Hängematte gespannt.
»Wie ist dein Eindruck?«, fragte ich.
»Eine Bruchbude«, entgegnete Havens.
»Ich schätze mal, das da könnten wir aufbrechen.« Ich zeigte auf ein kleines Fenster im Erdgeschoss.
»Womit?«, fragte Havens. »Und wozu?«
In dem Augenblick ging die Hintertür auf, und eine Frau trat heraus. Sie trug eine riesengroße Sonnenbrille und einen breitrandigen Hut, unter dem weißes Haar hervorquoll. Sie war hochgewachsen, ihr Rücken jedoch gekrümmt. Aus einem geblümten Beutel zog sie eine Cremetube heraus, drückte einen langen Streifen in ihre Hände und massierte ihn in die faltige Haut ihres Gesichts und ihrer Arme. Dann steckte sie die Tube zurück, folgte einem Pfad, der am Haus entlangführte, und verschwand durch eine Lücke in der Hecke.
»Auf geht’s«, sagte Havens.
Wir schlichen über denselben Pfad, bis wir auf eine Wiese stießen, umgeben von gestutzten Bäumen und Sträuchern. In der Mitte stand ein Stahlschuppen. Die Frau öffnete die Tür und trat hinein. Havens rannte los, doch die Tür fiel zu, ehe er auch nur in der Nähe war. An einer Seite des Schuppens befanden sich ein schwerer Generator und etwas, das wie eine vorsintflutliche Klimaanlage aussah. Havens deutete auf die Stromleitungen über uns.
»220 Volt.«
Gleich darauf stieß er mich in die Seite und wies auf das Tastenfeld neben der Tür.
»Was ist damit?«
»Schau es dir an.«
Leise näherten wir uns der Tür. Die Zahlen auf den Tasten reichten von Null bis dreißig. Auf vieren von ihnen waren fettige Fingerabdrücke zu erkennen. Havens grinste und zeigte auf die unterste Taste. Sie trug das Zeichen »#« und einen weiteren Fettabdruck.
Wir krochen über den Pfad zurück. Ich spürte die Versuchung, durch das kleine Fenster unten ins Haus einzusteigen, aber Havens zerrte mich zu den Bäumen. Das war unser Glück, denn kurz darauf tauchte die Frau auf dem Pfad auf und ging wieder ins Haus. Zwanzig Minuten später öffnete sich das Garagentor, und ein Lexus fuhr heraus. Die Frau saß am Steuer, allein. Wir sahen dem Wagen auf dem Weg über die Einfahrt nach.
»Das dürfte Finn gewesen sein«, sagte Havens.
»Muss sie gewesen sein«, sagte ich. »Was ist mit dem Schuppen?«
»Kannst du dich noch an die Zahlen erinnern?«
Ich nickte.
»Kriegst du die Tür auf?«
»Ich kann es versuchen.«
»Worauf warten wir dann noch?«
Wieder schlugen wir den Weg zu dem Schuppen ein. Dabei rechnete ich die Kombinationsmöglichkeiten aus. Wenn ich davon ausging, dass sich keine der Nummern wiederholte, bedeuteten vier Zahlen plus Nummernzeichen hundertzwanzig Möglichkeiten. Am Schuppen angekommen, setzte ich mich auf den Boden, lehnte mich an die Wand, schloss die Augen und setzte im Geist eine Zahlenreihe zusammen. Havens stand wartend vor dem Tastenfeld.
»Fertig?«, fragte er.
»Ja, glaub schon.«
Auf meinen Augenlidern flackerte eine Kombination auf. Ich las sie Havens vor, und er gab die Zahlen ein. Fehlanzeige. Ich versuchte es noch einmal. Wieder nichts. In der Stille hörte ich die Wellen, die sich auf den Sand wälzten und zurückwichen. Dann Jakes Stimme, die nach der nächsten Zahlenreihe verlangte. Dann nach der vierten. Auf die Zauberformel stieß ich beim achtunddreißigsten Versuch. Die Tür ging auf, und wir betraten den Schuppen.
Innen war es dunkel. Ein kalter Luftzug trocknete den Schweiß auf meiner Haut, ein Schauer lief über meine Arme. Gänsehaut. Havens ertastete einen Lichtschalter. Deckenleuchten flammten auf, und wir standen in einem Raum, in dem irgendwann einmal ein Labortechniker gearbeitet haben musste. An der Stirnseite zog sich ein Tisch mit schwarzer Granitoberfläche entlang, an jedem Ende ein Becken aus Edelstahl. Darüber hingen Wandschränke aus hellem Holz. Auf dem Tisch befanden sich zwei Ständer, einer mit Reagenzgläsern, der andere mit Pipetten, des Weiteren ein Computer und drei Mikroskope. Vor dem Tisch standen drei Hocker. Von irgendwoher zu unserer Linken drang das leise Klopfen und Ächzen eines Druckluftkompressors.
»Was ist hinter der Tür da?«, sagte Havens.
Wir drückten sie auf und gelangten in eine Kammer. Der halbe Raum wurde von einem begehbaren Kühlschrank und drei
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