Kein Opfer ist vergessen
altmodischer Schreibtisch, ein paar Stühle und drei angeschlagene Metallschränke befanden. Von dem kleinen Fenster aus schaute man auf einen viereckigen Hof, der in grellem Sonnenlicht lag.
»Hier arbeite ich manchmal«, sagte Z. »Bitte, setzen Sie sich.«
Sie nahm ein Schlüsselbund vom Schreibtisch und steckte einen Schlüssel in das unterste Schubfach des mittleren Schranks. Beim Öffnen quietschten die Angeln. Z hob einen roten Ziehharmonika-Ordner heraus.
»Hier bewahre ich ein paar meiner alten Artikel auf und andere Berichte, die mir wichtig scheinen.« Z kramte Zeitungsausschnitte hervor, die mit einer Heftklammer zusammengehalten wurden. Zuoberst steckte ein Ausschnitt, auf dem ich ein verschwommenes Foto von Rosina Rolland und einen kurzen Untertext erkannte.
»Damals war ich achtundzwanzig«, sagte sie, »und gerade dabei, mich als Journalistin zu etablieren. Ich war gut, aber nicht brillant. Eines Tages war ich mit anderen auf einem Segelausflug. Wir sind morgens vom Lake Bluff aus gestartet. Als wir abends zurückkamen, hatte ich sechs oder sieben Gläser getrunken und hätte nie im Auto nach Hause fahren dürfen. Ach, was sage ich da, nicht mal zehn Schritte hätte ich fahren dürfen.« Sie setzte sich an den Schreibtisch und senkte den Kopf. Ich sah die weiße Kopfhaut entlang ihrer Scheitellinie. Dann strich sie über das Gesicht auf dem Foto und wiegte sich vor und zurück.
»Ich habe nicht mal mitgekriegt, dass ich die Schnellstraße verlassen hatte, war irgendwie auf die Ausfahrt geraten. Mit einem Mal war ich auf einer kleinen Zufahrtsstraße – fuhr viel zu schnell. Dann war ich auf dem Randstreifen und wirbelte Staub auf, der sich auf die Windschutzscheibe legte. Der Wagen scherte aus, und ich landete halb in einem Graben.« Sie sah mich an, dann Jake, als wären wir die Geschworenen und sie stünde vor Gericht. »Ich konnte nur noch daran denken, dass eine Streife vorbeikommt und einen Alkoholtest macht. Zwei Promille, vielleicht. An das Aufsehen und meine Karriere. Ich trat aufs Gas, schaffte es aus dem Graben heraus und raste in Richtung Schnellstraße. Eine kleine Stimme im Ohr sagte mir, ich müsse wieder auf die Edens und mich dort unter die anderen Betrunkenen vom 4. Juli mischen. Ich habe Rosinas Wagen nicht gesehen …«
Sie hielt inne und starrte auf das Foto. Ich schaute Havens an, der mir mit einem Finger auf den Lippen klarmachte, dass ich den Mund halten sollte.
»Ich war verletzt, hinterher, meine ich. Aber ich weiß immer noch nicht, was mich geritten hat, Coursey anzurufen. Quatsch, natürlich weiß ich es. Ein Jahr zuvor hatten wir uns zusammen betrunken, und ich hatte ihn auf dem Rücksitz seines Wagens gevögelt.«
Wir sagten nichts dazu. Ich glaube, die Episode mit Coursey war ihr inzwischen ziemlich einerlei geworden. Oder war es von Anfang an gewesen.
»Wie dem auch sei, ich kannte ihn. Wusste, dass er Beziehungen hatte und Dinge regeln konnte. Er war in zehn Minuten da. Irgendwie hat er mich in einen anderen Wagen verfrachtet, und irgendeiner hat mich ins Krankenhaus gefahren. Das ist alles, was ich weiß. Ich habe nie mehr darüber gesprochen.«
»Doch dann hat Coursey sich gemeldet«, sagte Havens.
»Ich dachte, er wollte Sex. Hier und da eine schnelle Nummer, wenn ihm der Sinn danach stand. Wenn es das nur gewesen wäre.« Z zog ein zweites Bündel Zeitungsausschnitte hervor. »Damit hat es angefangen.«
Sie zeigte uns die oberste Seite. Es war eine Titelgeschichte unter ihrem Namen. Sie stammte vom 4. November 1993. Die Schlagzeile lautete »Heiße Würstchen«. Auf dem Foto darunter sah man ein Stück Brachland unter einer Hochbahnbrücke. Ein kleineres Foto im Text zeigte das verschwitzte, lächelnde Gesicht eines Mannes namens Manny Silva.
»Sie werden sich nicht mehr an die Geschichte erinnern«, fuhr Z fort. »Silva gehörte zum Stadtrat von Chicago. Er hatte seinen Cousin als Strohmann benutzt und für eine lächerliche Summe zwei Grundstücke am Wrigley-Stadion erworben. Dann machte er seinen Einfluss geltend. Die Gegend wurde als Gewerbegebiet deklariert, und er machte am Stadion eine Hotdog-Bude auf. Coursey hatte mir den Tipp gegeben und gesagt, Silva sei korrupt. Er hatte mir ganz genau erklärt, wo ich graben musste.«
»Ja und?«, sagte ich. »Silvas Vorgehen war illegal. Warum sollte er nicht bloßgestellt werden?«
Z schnaubte verächtlich. »Das Ganze war eine Falle. Der Eigentümer der Grundstücke hatte Silva überredet. Zum Kauf
Weitere Kostenlose Bücher