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Kein Ort - Nirgends

Kein Ort - Nirgends

Titel: Kein Ort - Nirgends Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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sah er ein zottiges Tier, einen Eber wohl, ein wildes, schönes, rasendes Geschöpf, dem er nachjagte in atemlosem Galopp, ihm Zügel anzulegen, es zu besteigen, es sich zu unterwerfen. Wenn er es auf Schrittweite einholte, sein bräunliches Fell dicht vor Augen hatte, von seinem heißen Atem gestreift wurde – erreichen konnte er es nie. Und jedes einzige verfluchte Mal, wenn er so ausgepumpt war, daß er zu Boden ging, das Vieh ihm zu entschwinden drohte, griff er doch wieder nach der Muskete, die sein allgegenwärtiger unbekannter Feind ihm reichte, legte an, zielte, schoß. Das Tier sich aufbäumend, stürzend, zuckend verendend.
    Danach, entsinnt er sich, schwiegen sie lange, bis er sah: Wilhelmine weinte. Er fragte sie nichts, streichelte ihre Hand und fühlte endlich, was er vorher vermißt hatte: daß er sie lieben könnte. – Kleist, sagte sie schließlich, und schien gefaßt: Mit uns beiden, das wird nichts. Wir werden niemals Mann und Frau. – Da hatten sie in ein paar Minuten alles durchlebt, was sich dann noch – warum bloß! – über Jahre quälend hinzog.
    Die alte nutzlose Trauer will ihn überkommen, vor der er sich fürchtet. Die Fäden zu jener Vorzeit zerreißen, das muß er lernen, Wedekind hat recht. Wenn einer sich seiner Bestimmung so spät bewußt wird, muß der Preis,den er zahlt, allerdings hoch sein. Warum nur will mir das nicht in meinen Schädel.
    Jener Traum. Daß er ihm folgt, all die Jahre schon. Daß er sich kaum verändert, ihn jedesmal, entgegen aller Vernunft, derart erschüttert: Es kann doch nur heißen, daß er immer wieder vor dem gleichen Zwiespalt steht, der ihn ängstigt: Er hat die Wahl – falls das eine Wahl zu nennen ist –, das verzehrende Ungenügen, sein bestes Teil, planvoll in sich abzutöten oder ihm freien Lauf zu lassen und am irdischen Elend zugrunde zu gehn. Sich Zeit und Ort nach eigner Notwendigkeit zu schaffen oder nach gewöhnlichem Zuschnitt zu vegetieren. Recht hübsch das. Die Mächte, die ihn in ihren Klauen haben – durch Geringschätzung beleidigen sie ihn nicht. Das wird die einzige Genugtuung sein, die er in seinem Leben erfährt. Und er wird sich ebenbürtig zeigen. Kein andrer wird das Urteil an ihm vollstrecken als er selbst. Die Hand, die schuldig werden mußte, vollzieht die Strafe. Ein Schicksal nach seinem Geschmack. Wollüstig schaudert es ihn vor dem Blick in die innere Maschinerie der Seele. Wer sich an solche Blicke, an derartige Einsichten gewöhnt, verfällt keiner anderen Sucht, bedarf keines anderen Rauschmittels. Auch der Liebe nicht. Und wird keine Stunde frei von Schuldgefühl mehr kennen. Wer so hoch spielt, mit sich selbst als Einsatz, soll auf Gefährten nicht rechnen. Nicht auf das gemeine Glück, zu andern ganz wahr sein zu können.
    Kleist bricht der Schweiß aus, in Sekunden ist sein Körper naß. Er fühlt sich bleich werden: wieder die Schwäche in den Beinen. – So setzen Sie sich doch! – Der Hofrat. In solchem Augenblick ist auf ihn Verlaß. Er stellt sich, wie zufällig, mit seinem schweren breiten Körperso vor Kleist, daß er ihn vor den andern verdeckt. Er reicht ihm ein Tuch. Er übergeht den Vorfall, wie sie es geübt haben. Erleichtert beobachtet Kleist, wie der Anfall vorübergeht, die Unruhe sich zurückzieht, ehe sie zur Angst, zur Beklemmung hat werden können. Die Damen, Herr Hofrat, sagt er, die Damen hier setzen mich in Erstaunen.
    Ja, die Damen! Das will ihm der Hofrat gerne glauben. Scherzhaft, mit einem Anflug von Selbstbehaglichkeit, preist er die rheinische Luft, die gewiß ein andres Wachstum begünstige als der preußische Sandboden. Obwohl er, Wedekind, nicht in den Verdacht kommen wolle, die Tugenden gering zu schätzen, die man, wie sonst nirgendwo, bei den Preußen lernen könne: Strenge, Pflichterfüllung, Selbstzucht.
    Kleist hört seinen Vater, seinen Onkel reden. Ach, sagt er, höflich bis zur Albernheit, im Ausland mache man sich übertriebene Vorstellungen davon. Wir Preußen, sagt er, sind schließlich auch Menschen.
    Nur jetzt nicht lachen müssen, er fände kein Ende. Übrigens: Savigny? sagt der arglose Wedekind. Ihn werden Sie doch bemerkt haben?
    Kleist versteht.
    Wedekind hat ihn eine Methode gelehrt, seiner zwanghaften Vorstellung, jedermann befasse sich insgeheim mit seinen Schwächen, entgegenzuwirken: Alle Sinne und Seelenkräfte zusammennehmend, soll er sich in ein Mitglied des Kreises versenken, in dem er sich gerade befindet. Sein Interesse würde sich so von ihm

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