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Kein Ort - Nirgends

Kein Ort - Nirgends

Titel: Kein Ort - Nirgends Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Kleist fühlte sich, als er, von Frankreich kommend, in Mainz zusammenbrach, zerschmettert am Boden eines Schachtes, und jeder war ihm unerträglich, der dies Gefühl nicht mit ihm teilte; auch der Arzt, dem Gemütsruhe und Gesundheit im Gesicht geschrieben standen. Vernunft, Mäßigung, Ökonomie der Kräfte – ja und nochmals ja! Wie soll der Gesunde den Kranken verstehn? Der Hofrat hielt seine Ermahnungen zurück, um den Patienten nicht zu reizen. Der beruhigte sich etwas – merkwürdiger Mensch! –, als er den Vergleich gefunden hatte, der sein Befinden am deutlichsten umschrieb: Er sei in ein Mühlwerk gefallen, das ihm jeden seiner Knochen einzeln zerbreche und ihn zugleich zerreiße. Kein Zweifel: Der Mann litt. Der Arzt sah ihn sich krümmen, er hörte ihn stöhnen wie auf der Folter. Kleist erinnert sich, daß der Schmerz ihm Geständnisse erpreßt hat, Versuche, den Schmerz zu beschreiben. Das erträgt kein Mensch lange, Doktor. Einmal muß es nachlassen oder mich töten.
    Kleist weiß seitdem, daß Worte die Seele nicht malenkönnen, und glaubt, niemals mehr schreiben zu dürfen.
    Dann wieder ging er durch die winterkalten Straßen von Mainz in unsäglicher Verlassenheit, die er mit Ruhe verwechselte, bis ein zufälliger Blick auf einen in Stein gemeißelten Adler über einer Toreinfahrt, den er für den preußischen nahm, ihn bis auf den Grund aufwühlte und ihn in Tränen zu Wedekinds Haus zurücktrieb. Können Sie sich einen Menschen vorstellen, Doktor, der hautlos unter die Leute muß; den jeder Laut quält, jeder Schimmer blendet, dem die leiseste Berührung der Luft weh tut. So ist mir, Doktor. Ich übertreibe nicht. Das müssen Sie mir glauben.
    Ich glaube Ihnen, hat Wedekind gesagt, nicht ohne Bewegung, und ist am Bett des Erschöpften sitzen geblieben, der mit den eignen Armen, wie um sich festzuhalten, seinen Körper preßte und mit dem Kopf auf dem Kissen hin- und herschlug, bis er schließlich einschlief. Vor kurzem erst hat der Hofrat seinem Gast zu verstehn gegeben, er meine die Benennung für seine Krankheit in der Literatur gefunden zu haben, zugleich mit ihrer exakten Beschreibung; er wolle es ihm aber nicht antun, ihm die Inständigkeit und Würde seines Leidens mit einem trocken wissenschaftlichen Ausdruck in Frage zu stellen; er hege auch Zweifel, ob die Wissenschaft, deren Methode die sachliche Verallgemeinerung, in Fällen höchster persönlicher Pein überhaupt zuständig sei, weil ihr die lebensverändernde Erfahrung des Heimgesuchten fehlt: daß es einen Schmerz zum Tode gibt.
    Der gute Hofrat. Er muß seit langem gewußt haben, daß die Menschen am liebsten unter Lasten zusammenbrechen, die sie sich selbst auferlegen, aber ein Menschwie ich, denkt Kleist mit verquerem Humor, der seinen eignen Untergang so höllisch präzis herbeiführt, ist ihm noch nicht begegnet. Sein Dogma von der Willensfreiheit des Menschen, auf das er sich so viel zugute hielt, hat er fahrenlassen, und sein Kinderglaube, ein jedes Übel trage seine Heilung in sich selbst, wurde an mir zuschanden. Etwas zerreibt Sie, Kleist, über das Sie nicht Herr sind. Wie wahr. Das Unglück, Herr Hofrat, von Bindungen abzuhängen, die mich ersticken, wenn ich sie dulde, und die mich zerreißen, wenn ich mich löse.
    Dies ist ein Übel, das mit den Jahren nicht sanfter, nur schneidender wird.
    Der Hofrat, der den Stolz dieses Menschen fürchten gelernt hat, mag hoffen, Kleist habe die erniedrigenden Szenen der ersten Tage vergessen; doch der, zu seiner Pein, hat alles behalten. Daß er geweint, ja geschrien, daß er den Hofrat, einen Wildfremden, um sein Mitgefühl angefleht hat; daß er sich hinreißen ließ, Namen preiszugeben, die ihn am meisten brannten: Ulrike, Wilhelmine. Daß er das Bild eines Verzweifelnden gab, den eine Verschuldung, ein Versagen zu Boden drückte, bis Wedekind, außer sich, ihn eines Tages an den Schultern rüttelte und ihn anschrie: Was denn, Menschenskind, haben Sie sich vorzuwerfen! Worauf Kleist tobte bis zur Ermattung, dann eine Nacht und einen Tag durchschlief und, als er erwachte, ruhig und gefaßt erklärte, er wisse nun, was er zu tun habe: Er werde Tischler.
    Kleist knirscht mit den Zähnen. Wenn es ein Mittel gäbe, den Apparat in seinem Kopf abzudrehn, den man ihm anstelle eines normalen Gedächtnisses eingesetzthat und der zu nichts anderm imstande ist, als ihm die immer gleiche Gedankenreihe, das immer gleiche, ewigdauernde, marternde Selbstgespräch zu wiederholen, das er all

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