Schöne Lügen: Roman (German Edition)
1. KAPITEL
Trotz der Gelassenheit, die sie nach außen hin ausstrahlte, zitterte Erin O’Shea vor Nervosität, als sie den Finger auf den Klingelknopf legte. Sie hörte das melodische Läuten im Inneren des Hauses, das wunderhübsch in einer der mittelständischen Wohngegenden von San Francisco lag.
Über die Schulter hinweg warf Erin einen Blick auf die Nachbarhäuser, die alle einen sehr gepflegten Eindruck machten mit ordentlichen Vorgärten, die zwar nicht protzig, doch makellos und sehr geschmackvoll aussahen. Das Haus, vor dem sie stand, war taubengrau gestrichen und mit Weiß abgesetzt, typisch für die Architektur von San Francisco, wie auch die anderen Häuser in dieser Straße; in die Garage konnte man direkt hineinfahren, der Wohnteil lag ein wenig höher. Steile Betonstufen führten zur Eingangstür, die mit einem altmodischen geätzten Glasfenster versehen war.
Erin versuchte, durch das undurchsichtige Glas etwas zu erkennen oder eine Bewegung im Inneren des Hauses zu sehen, während sie auf Schritte lauschte, die sich vielleicht näherten, doch es rührte sich nichts, und auch Geräusche drangen nicht heraus.
Wenn nun niemand zu Hause war? An diese Möglichkeit hatte Erin überhaupt nicht gedacht. Eigentlich hatte sie an gar nichts mehr gedacht, seit sie das Flugzeug aus Houston
verlassen hatte, nur noch daran, dieses Haus zu finden. Ihre Gedanken, während sie die malerischen Straßen San Franciscos entlanggefahren war, hatten sich zielbewußt nur um eines gedreht: Der heutige Tag war das Ende einer drei Jahre andauernden Suche. Sie hatte über staubigen Archiven gebrütet, endlose Ferngespräche geführt, hatte erlebt, daß man ihr die Tür vor der Nase zuschlug, war enttäuscht gewesen über falsche Hinweise, bis sie jetzt endlich angekommen war.
Heute würde sie zum ersten Mal in ihrem Leben ihren Bruder sehen. Heute würde sie ihrem einzigen Blutsverwandten von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen.
Ihr Herz machte einen Hüpfer, als sie im Haus Schritte hörte, die sich der Tür näherten. Seine Frau? Eine Hausangestellte? Ihr Bruder? Sie schluckte.
Die Tür wurde sehr langsam geöffnet. Er stand vor ihr. »Mr. Kenneth Lyman?« fragte sie.
Er antwortete nicht. Statt dessen betrachtete er sie von Kopf bis Fuß. Seine schnelle Musterung konnte nicht mehr als nur den Bruchteil einer Sekunde gedauert haben, doch hatte Erin das Gefühl, als wäre ihm kein Deut entgangen.
»Mr. Kenneth Lyman?« wiederholte sie.
Er nickte kurz.
All ihre Aufregung war plötzlich verschwunden und wurde ersetzt durch ein heißes Glücksgefühl, als dieser Mann bestätigte, ihr Bruder zu sein. Er sah umwerfend gut aus! Sie war überrascht, in seinen Gesichtszügen nichts zu finden, das den ihren ähnelte. Vom Typ her war er hell, sie dagegen dunkel. Vor ihrem inneren Auge hatte sie immer ein Gesicht gesehen, das die männliche Ausgabe ihres eigenen
Gesichtes darstellte, aber dieser Mann war so ganz anders, als sie ihn sich vorgestellt hatte.
Sein Haar wies ein sandiges Braun auf, aber als ein schwacher Schein des matten Februarlichtes darauf fiel, leuchtete es golden. Seine Brille in der schmalen Hornfassung hatte er nach oben auf den Kopf geschoben. Die Brauen auf der breiten Stirn waren dicht und genauso golden wie sein Haar. Blaue Augen, von dichten kurzen Wimpern beschattet, die am Ansatz dunkel, an den Enden jedoch hell waren, musterten sie eindringlich.
Seine Nase war gerade und schmal, der Mund darunter fest und breit, und sehr ernst. In dem kräftigen Kinn entdeckte sie ein bezauberndes Grübchen, das von einem eigensinnigen Willen zeugte.
»Entschuldigen Sie, daß ich Sie so anstarre«, begann Erin, doch selbst dann noch studierte sie ihn regelrecht. Würde sie je müde werden, dieses Gesicht zu betrachten, nach dem sie so lange gesucht hatte?
Noch immer war kein Wort gefallen. Seine Augen gingen zu einem Punkt hinter ihr, als erwarte er, dort noch jemanden zu entdecken. Er warf einen Blick auf den weißen Mercedes, den sie am Flughafen gemietet hatte, auf das Haus auf der anderen Straßenseite, die ganze Gegend, ehe er wieder bei ihr anlangte. Es war beunruhigend, daß er noch nichts gesagt hatte, aber er wußte ja auch gar nicht, wer sie überhaupt war.
»Ich habe einen weiten Weg zurückgelegt, um Sie zu sehen«, begann sie. »Darf ich reinkommen und einen Augenblick mit Ihnen reden?«
»Worüber sollten wir beide reden?«
Ein süßer, ziehender Schmerz in ihrem Herzen machte
sich beim Klang
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