Kein Ort ohne dich: Roman (German Edition)
nicht alles gesagt. Als er nun, nachdem seine Mutter gegangen war, allein in der Scheune stand, lehnte sich Luke an den elektrischen Bullen und durchlebte im Geiste noch einmal das, was er zu vergessen versucht hatte.
Es hatte acht Tage gedauert, bis er überhaupt erfuhr, was passiert war. Obwohl er wusste, dass er verletzt worden war, und sich nach ein paar Fragen vage an den Ritt erinnerte, hatte er bis dahin keine Ahnung gehabt, wie nahe er dem Tod gewesen war. Dass der Bulle ihm nicht nur den Schädel zertrümmert, sondern auch den ersten Halswirbel angebrochen und sich Blut in seinem Gehirn gesammelt hatte.
Luke hatte Sophia nicht erzählt, dass die Knochen in seinem Gesicht erst fast einen Monat später gerichtet worden waren, aus Angst vor zusätzlichen Erschütterungen. Ebenfalls nicht erwähnt hatte er, dass die Ärzte ihm am Krankenbett mitgeteilt hatten, er werde sich nie vollständig von der Kopfverletzung erholen – und es befinde sich jetzt eine kleine Titanplatte in seinem Schädel. Noch ein ähnlich starker Stoß gegen den Kopf, mit oder ohne Helm, würde ihn höchstwahrscheinlich umbringen. Die Platte, die sie ihm in den zertrümmerten Schädel eingepasst hatten, saß zu nahe am Hirnstamm, um ihn ausreichend zu schützen.
Nach dieser Auskunft hatte er damals weniger Fragen gehabt als von allen erwartet. Er hatte auf der Stelle beschlos sen, das Bullenreiten aufzugeben, und dies auch jedem gesagt. Er wusste, er würde das Rodeo vermissen und wahrschein lich immer von der Sehnsucht träumen, die Meisterschaft zu gewinnen. Aber lebensmüde war er nicht, und damals glaubte er, noch viel Geld auf dem Konto zu haben.
Und das stimmte auch, aber eben nicht genug. Seine Mutter hatte die Ranch als Sicherheit für den Kredit eingesetzt, mit dem sie seine entsetzlich hohen Arztrechnungen bezahlt hatte. Obwohl sie ihm immer wieder versicherte, dass ihr die Ranch gleichgültig sei, wusste er tief im Inneren, dass das nicht stimmte. Die Ranch war ihr Leben, etwas anderes kannte sie nicht, und alles, was sie seit dem Unfall getan hatte, bestätigte das. Im vergangenen Jahr hatte sie bis zur Erschöpfung gearbeitet, um das Unvermeidbare abzuwenden.
Er konnte die Ranch retten. Natürlich würde er im nächs ten Jahr – oder auch in den nächsten drei Jahren – nicht genug verdienen können, um den Kredit ganz abzube zahlen, doch er ritt gut genug, um für die Raten aufzukommen und noch etwas zu sparen, selbst wenn er nur an der kleinen Tour teilnahm. Er bewunderte die Bemühungen seiner Mutter mit den Weihnachtsbäumen und den Kürbissen und der Vergrößerung der Herde, aber sie wussten beide, dass das nicht reichen würde. Er hatte genug über die Kosten dieser oder jener Reparatur gehört, um zu wissen, dass ihre Lage extrem schwierig war.
Also, was blieb ihm übrig? Er musste entweder so tun, als würde schon alles klappen, was unmöglich war, oder einen Ausweg für das Problem finden. Und wie das ging, wusste er genau. Er musste nur gut reiten.
Doch selbst wenn er gut ritt, bestand die Gefahr, dass er starb.
Luke kannte die Risiken. Genau deshalb zitterten seine Hände jedes Mal vor einem Wettbewerb. Er war nicht eingerostet oder von normalem Lampenfieber geplagt. Sondern immer, wenn er sich die Halteschlinge um die Hand wickelte, fragte er sich, ob das sein letzter Ritt würde.
Mit einer solchen Angst konnte man beim Rodeo unmöglich erfolgreich sein. Außer natürlich, es stand etwas Größeres auf dem Spiel, und für ihn ging es nun einmal um die Ranch. Und um seine Mutter. Sie durfte nicht seinetwegen ihr Zuhause verlieren.
Er schüttelte den Kopf. Er wollte nicht über diese Dinge nachdenken. Es war ohnehin schon schwer genug, das nötige Selbstvertrauen aufzubringen, um die Saison durchzu halten und auch etwas zu gewinnen. Womit er sich nicht befassen wollte, war, nicht in der Lage zu sein, zu reiten.
Oder dabei zu sterben ...
Als er damals sagte, er wolle aufhören, hatte er den Arzt nicht angelogen. Er wusste, was das Rodeo aus einem Mann machen konnte, er hatte seinen Vater gesehen, wenn er sich krümmte und quälte, und dieselben Schmerzen hatte er selbst schon gespürt. Er hatte das ganze Training ausgehalten und sein Bestes gegeben, aber es hatte nicht geklappt. Und vor achtzehn Monaten hatte er das akzeptieren können.
Jetzt allerdings, als er hier neben dem elektrischen Bullen stand, wusste er, dass er keine Wahl hatte. Also zog er die Handschuhe an, atmete tief durch und stieg
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