Kein Ort ohne dich: Roman (German Edition)
laut, und dabei merkte ich, dass ich sie kaum hören konnte. Zwei Wochen später wurde mir ein Hörgerät angepasst. Ich nahm es mit Gleichmut hin.
Es war Zeit. Ich wurde alt. Zwar erlebten Ruth und ich in unserer Ehe niemals wieder eine so düstere Zeit wie nach Daniels Verschwinden, doch es war nicht immer leicht. 1 966 starb ihr Vater, und zwei Jahre später erlag ihre Mutter einem Schlaganfall. In den 1 970ern entdeckte Ruth einen Knoten in ihrer Brust, und bis die Biopsie schließlich ergeben hatte, dass er nicht bösartig war, befürchtete sie, Krebs zu haben. Ende der Achtziger verstarben meine Eltern innerhalb eines Jahres, und Ruth und ich standen in dem Wissen an ihrem Grab, die letzten Überlebenden beider Familien zu sein.
Ich vermochte nicht in die Zukunft zu sehen, aber wer kann das schon? Ich weiß nicht, was ich von den gemeinsamen Jahren, die uns noch blieben, erwartete. Wahrscheinlich nahm ich an, wir würden weitermachen wie immer, denn ein anderes Leben hatte ich ja nie gekannt. Vielleicht würden wir weniger reisen, denn die Fahrten und das Laufen wurden beschwerlich für uns, aber davon abgesehen keine Veränderung. Es gab keine Kinder oder Enkel zu besuchen, keinen Wunsch, noch einmal ins Ausland zu fahren. Vielmehr widmete sich Ruth stärker dem Garten, und ich begann, die Vögel zu füttern. Wir schluckten Vitamine, und keiner von uns beiden hatte noch großen Appetit. Rückblickend hätte ich mir bewusst machen sollen, dass Ruth bei unserer goldenen Hochzeit schon länger gelebt hatte als ihre beiden Eltern, doch ich hatte zu viel Angst, mich damit zu befassen. Ein Leben ohne sie war für mich nicht vorstellbar und auch nicht akzeptabel, aber Gott hatte andere Pläne. 1 9 98 erlitt Ruth, wie ihre Mutter, einen Schlaganfall, der ihre linke Körperseite nachhaltig schwächte. Im Haus konnte sie sich zwar weiterhin selbstständig bewegen, unsere Sammlertage waren damit jedoch vorbei, und wir kauften nie wieder ein Kunstwerk. Zwei Jahre später, als wir an einem kalten Frühlingsmorgen in der Küche saßen, verstummte sie mitten im Satz, und ich wusste, sie hatte einen weiteren Schlaganfall gehabt. Drei Tage lang unterzog sie sich im Krankenhaus verschiedener Tests und wurde dann entlassen, doch wir sollten nie wieder ein Gespräch führen, bei dem die Worte frei flossen.
Ihre linke Gesichtshälfte wurde noch unbeweglicher, und sie vergaß allmählich die gängigsten Wörter. Das machte Ruth mehr zu schaffen als mir. Für meine Augen blieb sie so schön wie am ersten Tag. Ich war ja selbst nicht mehr der Mann, der ich einmal gewesen war. Mein Gesicht war runzlig, und die Größe meiner Ohren verblüffte mich beim Blick in den Spiegel immer wieder. Unser Alltag wurde noch reduzierter, ein Tag ging einfach in den nächsten über. Morgens bereitete ich das Frühstück zu, und wir aßen gemeinsam und überflogen dabei die Zeitung. Danach setzten wir uns in den Garten und fütterten die Vögel. Am späteren Vormittag schliefen wir ein wenig, und den Rest des Tages lasen wir oder hörten Musik oder kauften Lebensmittel ein. Einmal die Woche fuhr ich Ruth in den Schönheitssalon, wo sie sich die Haare waschen und frisieren ließ, weil ich wusste, dass sie das glücklich machte. Ab August saß ich dann stundenlang am Schreibtisch und verfasste einen Brief an meine Frau, und an unserem Hochzeitstag fuhr ich uns nach Black Mountain, wir begaben uns an den See, wie wir es immer getan hatten, und Ruth las die von mir geschriebenen Worte.
Zu dem Zeitpunkt lagen unsere Abenteuer längst hinter uns, doch ich war mehr als zufrieden damit, denn die längste Reise dauerte fort. Selbst damals noch hielt ich Ruth, wenn wir im Bett lagen, im Arm, dankbar für das Glück dieses Lebens, dieser Frau. In solchen Momenten betete ich egoistisch, ich möge zuerst sterben, doch ich ahnte das Unausweichliche bereits.
Im Frühling 2002, eine Woche nachdem die Azaleen im Garten voll erblüht waren, verbrachten wir unseren Vormittag wie üblich, und am Nachmittag beschlossen wir, am Abend essen zu gehen. Das taten wir selten, aber wir hatten beide Lust dazu, und ich weiß noch, dass ich im Restaurant anrief, um einen Tisch zu reservieren. Nachmittags machten wir einen Spaziergang. Nicht weit, nur bis zum Ende der Straße und zurück. Ruth schien die leicht frostige Kühle, die noch in der Luft lag, nicht wahrzunehmen. Wir unterhielten uns kurz mit einem Nachba rn – nicht dem wütenden Mann, der den Baum gefällt
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