Kein Wort mehr ueber Liebe
Louise Blum: reichlich spät – er hat sich gezwungen, einenganzen Tag verstreichen zu lassen – und sehr vorsichtig im Hinblick auf sein wahres Verlangen: »Danke für diesen sehr angenehmen Abend, auch wenn ich wirklich nicht ganz auf der Höhe war. Ich hoffe, Dich bald wiederzusehen, bei Samy oder sonst wo. Herzlichst, Thomas (der Analytiker)« Nun, das ist nicht gerade originell, denkt Thomas resigniert. Aber wenn Louise trotz der Banalität dieser Nachricht antwortet, wäre das immerhin ein Beweis dafür, dass sie ihn nicht gänzlich uninteressant findet. Er streckt sich in seinem Sessel aus, reckt die Arme in die Höhe, gähnt lauthals, eine rituelle Geste, bei der der Körper versucht, aufwühlende Gedanken abzuschütteln. Klick. Senden. Der Mac imitiert das Rauschen des Windes, und der Neun-Uhr-Termin läutet an der Türe. Anna Stein hat zehn Minuten Verspätung.
ANNA UND YVES
Anna Stein ist vornehm gekleidet. Wie immer. Eine weite, weiße Hose, die am Hintern enger wird, damit seine Form besser zur Geltung kommt, eine nachtblaue, leicht transparente Bluse, ein Trenchcoat aus einem groben, schwarzen, schillernden Stoff. Sie wählt ihre Kleidung sorgfältig aus, ihre hochgewachsene Silhouette gestattet ihr, zu tragen, was bei anderen fatal wirken würde. Sie möchte schlank sein, für sie ist schlank gleichbedeutend mit diszipliniert. Zunehmen, da ist sie sich sicher, heißt sich gehen lassen.
Anna Stein lässt sich nieder, sie entschuldigt sich für die Verspätung: Ihre kleine Tochter Léa hatte Fieber, und
außerdem
gab es keinen Parkplatz. Sie macht es sich auf dem Diwan bequem und kommt sofort auf diese vor nunmehr zwei Tagen erwähnte Begegnung zurück. Sie greift die Worte wieder auf, die sie bereits benutzt hat: Er ist Schriftsteller, sie gibt seinen Namen preis, »Yves«. Thomas radiert das X aus dem Schema des vorvorigen Tages aus, ersetzt es durch ein Y und zeichnet einen zweiten ovalen Ring um das A, der sie und ihren Mann Stanislas enthält. Schließlich zeichnet er ein drittes Oval, das ebenfalls Anna Stein enthält, aber diesmal fügt er seinen eigenen Namen, Thomas, hinzu. Anna Steinfindet sich nunmehr an der Schnittstelle der drei Mengen und scheint zu keiner mehr zu gehören.
Yves ist »so alt wie Stan«, ihr Mann, »oder nicht viel älter«. In ihren Augen wirkt er »eher abgebrannt«, und »außerdem wohnt er in Belleville«. Schreiben war für Anna immer schon ein Phantasma, sie vermutet, dass es sich in Yves inkarnieren könnte. Seit einer Woche hat sie überhaupt keinen Appetit mehr. »Ich esse nichts mehr, ich habe schon mindestens zwei Kilo abgenommen.« Das erschreckt sie: »Ich verstehe nicht, was mit mir los ist.« Sie glaubt, dass sie Stan, kaum zu Hause angekommen, gleich am Abend ihrer ersten Begegnung alles gestanden hat. Sie hat ihm lediglich im beiläufigen Tonfall, mit dem man eine unangenehme Überraschung ankündigt, gesagt, dass sie bei einer Abendeinladung einen Mann getroffen hat, einen »Mann, der sie verwirrt hat«, »zum ersten Mal seit langem«. Stan wusste keine Antwort, hat beinahe sofort von etwas anderem gesprochen, von der Musikstunde, von Léas Fortschritten, vom Termin, den Annas Bruder wegen eines Augenproblems bei ihm gemacht hat. Anna Stein hätte sich gewünscht, dass ihr Mann reagiert, oder besser noch, dass er agiert, dass er instinktiv spürt, dass sie nur geredet hat, damit er sie zurückhält. Aber Stanislas hat die Tragweite dieser Worte nicht ermessen, oder er wollte sie nicht ermessen. Er ließ zu, dass sich die Tür für ihre Wunschvorstellungen einen Spaltbreit öffnete, und darüber ist sie zugleich wütend, enttäuscht und entzückt.
Yves hat ihr sein letztes Buch mit dem sonderbaren Titel
Das zweiblättrige Kleeblatt
geschenkt; er hat es mit einer möglichst harmlosen Widmung versehen. Das sehr kurze Werk ist die unerbittliche Erzählung von einem Debakel der Gefühle,es liefert die klinisch distanzierte Vivisektion des Trugbilds der Liebe – eine Geschichte, die so alt ist wie die Welt: Ein reifer Mann hat sich in eine junge Frau vernarrt, und nachdem er sie ein wenig, aber eben nicht genug, verführt hat, entschließt er sich, ihr nach Irland zu folgen – was den Titel erklärt –, wo er in dem großartigsten aller Fiaskos an ihrer Gleichgültigkeit zerbricht. Der ironische Stil der Erzählung hat sie zum Lachen gebracht, sie dachte: Dieser Mann kennt sich aus. Auch sein Stil, seine Leichtigkeit, wiegte sie in Sicherheit. Sie ist
Weitere Kostenlose Bücher