Kein Wort mehr ueber Liebe
alle Examina: Sicher ist sie zu stolz, um im Studium zu scheitern. Sie ist noch nicht stolz genug, um es zu wagen,absichtlich durchzufallen. Das abenteuerliche Leben, für das man sich über so viele Verbote hinwegsetzen muss, rückt in die Ferne, sie weiß inzwischen, dass sie, trotz ihrer langen Beine und ihrer schönen Brüste, niemals in einem Kabarett tanzen wird. Ihre Mutter ist Ärztin, Anna wird Psychiaterin, sie heiratet einen Chirurgen, auch er ist Jude, sie haben zwei Kinder, erst Karl, dann Léa. »Ein kleines, jüdisches Unternehmen«, sagt sie manchmal und lacht dabei. Aber von ihren Zwanzigern, dieser Sehnsucht nach Boheme, bleibt ihr ein unerschrockenes Auftreten, ein Leuchten in ihrem Lächeln. Ihre diskrete Art zuzugeben, dass sie den Traum von der Bühne nie ganz aufgegeben hat.
Ja, Anna ist Frau Doktor Stein geworden. Aber glaubt sie wirklich daran?
Eines Tages, als sie im Krankenhaus anruft, um einen Kollegen zu sprechen, sagt sie mit fester Stimme:
– Guten Tag, könnte ich bitte Frau Doktor Stein sprechen?
Bestürzt legt sie sofort auf, betet, dass die Dame in der Telefonzentrale ihre Stimme nicht erkannt hat. Sie wartet mehr als eine Stunde, bevor sie es wagt, erneut anzurufen.
THOMAS UND LOUISE
»Ein Blitz aus heiterem Himmel.« Thomas Le Gall hat zuerst gelächelt, als er diesen altbackenen Ausdruck aus Annas Mund vernahm. Er hat nicht gefragt, ob sie die Sekunden zwischen dem Aufleuchten des Blitzes und dem Grollen des Donners gezählt hat. Aber das Leben schlägt Kapriolen. Einige Stunden nach dieser Sitzung mit Anna wird auch Thomas unversehens vom Blitz getroffen. Und zwar beim »rituellen« Abendessen bei Samy Karamanlis, einem jungen Soziologen, der einmal pro Monat offenes Haus hat. Thomas kannte Samy nicht, aber ein Freund hatte ihn mitgenommen: »Du wirst dich nicht langweilen, du wirst Bekanntschaften machen, hübsche Frauen, reizende Leute.«
Samy bewohnt eine Dreizimmerwohnung in der Rue de Grenelle, dort, wo das 7. Arrondissement sich schon fürs Quartier Latin hält: hohe Räume, bürgerliche Einrichtung, die Fenster gehen auf einen gepflasterten Hof. Für einen Gehaltsempfänger des Nationalen Wissenschaftszentrums CNRS ist dies ein unerschwinglicher Luxus, aber der Vater dieses Forschers ist in Lausanne im Bankgeschäft tätig. Die Gäste, gut dreißig an der Zahl, scheinen sich hier regelmäßig einzufinden, aber die Unterhaltungen drehen sich selten umPrivates. Thomas bewegt sich diskret von Gruppe zu Gruppe: Jemand anderer als er könnte sich jetzt damit amüsieren, hier eine Hysterikerin, dort einen Neurotiker oder einen Depressiven auszumachen. Thomas weiß, was das soziale Rollenspiel an Künstelei, an Schein und auch an Selbstkontrolle voraussetzt. Er verbietet sich das geringste Urteil.
Schnell bemerkt er eine junge Frau mit kurzen blonden Haaren, hellen Augen, die arg belagert wird. Sie lehnt in der großen Diele mit dem Rücken an der Wand, hält ein Glas mit einem orangefarbenen Cocktail in der Hand, dessen Oberfläche dank ihres Redeflusses vibriert. Thomas tritt näher heran, hört ihr zu. Er versteht, dass sie Anwältin ist. Sie spricht von der chinesischen, albanischen, rumänischen Mafia, der extremen Gewalttätigkeit, den offenen Drohungen, den Übersetzern, die sich nicht trauen, alles genau wiederzugeben, sie redet von der panischen Angst der Zeugen, dem Ziehen, das sie in der Magengrube verspürt, wenn sich die kalten Augen echter Mörder auf sie richten. Vor drei Wochen hat ein rumänischer Zuhälter eines seiner Mädchen gefesselt, mit Industrie-Klebeband geknebelt und in die Badewanne geworfen. Dann hat er sie mit der Rasierklinge langsam und tief aufgeschlitzt und fast in Stücke geschnitten. Ihr Blut ist »zwei oder drei Stunden lang« ausgelaufen, so die Schätzung des Gerichtsmediziners. Damit sie begreifen, wozu er fähig ist, hat der Zuhälter eins nach dem anderen alle Mädchen durchs Badezimmer defilieren lassen, hat sie gezwungen, die blutüberströmte Frau zu berühren, die noch nach Luft schnappte und deren Augen vor lauter Horror und Schmerz aus den Höhlen traten. Dann war sie endlich tot. Ein Kollege muss diesen Mann verteidigen, aber die Geschichte lässt sienicht los. Während sie sie noch einmal erzählt, durchlebt die Anwältin den Albtraum aufs Neue, und ihre Worte schaffen es immer noch nicht, ihn zu vertreiben.
Mit einer hübschen Geste streicht sie eine herunterfallende Locke zurück, da bemerkt sie ihn plötzlich, sie
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