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Kein Wort mehr ueber Liebe

Kein Wort mehr ueber Liebe

Titel: Kein Wort mehr ueber Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Herve Le Tellier
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soll ich Ihnen denn sonst noch sagen?«, konnte sie damit anfangen, zu reden ohne nachzudenken, konnte sie, mit Freud gesprochen, sagen, was »ihr gerade durch den Kopf ging«, ohne dabei zu versuchen, eine Fiktion zu schaffen, eine narrative Logik herzustellen. Anna assoziiert seitdem, entdeckt Verknüpfungen, erschafft wieder Sinn. Sie kommt voran.
    Vorgestern, in der letzten Minute der Sitzung, hatte sie noch fallen lassen: »Ich habe eine Bekanntschaft gemacht,eine Bekanntschaft mit jemandem. Ein Mann, ein Schriftsteller.« Thomas hatte sich damit begnügt, ganz ohne Eile ein paar Worte in dem großen Heft, das er für Anna Stein angelegt hatte, zu notieren: »Bekanntschaft mit jemandem« – der Pleonasmus gibt ihm zu denken –, dann: »Mann«, »Schriftsteller«. Links schreibt er gesondert auf, was er aus der Erzählung an Faktischem heraushört, rechts unterstreicht er, was ihm dem Spiel der Sprache geschuldet scheint und eher auf eine Art der Formalisierung zurückzuführen wäre. Anna hat hinzugefügt: »Ein Blitz aus heiterem Himmel.« Thomas hatte sich über den elektrischen und befreienden Ausdruck amüsiert.
    Dann hat er mit Bleistift eine gepunktete Linie gezeichnet, an deren Ende er den Buchstaben X geschrieben hat, den er mit dem A für Anna verband. Die Perspektive und die logische Anordnung verändernd, hat er die beiden Buchstaben X und A in einem ovalen Diagramm als Boole’sche Menge zusammengeführt. Er hat nicht darauf bestanden, dass sie weiterredet. Auf der Westminster-Uhr ist die halbe Stunde seit einigen Minuten überschritten. Er hat nur gesagt:
    – Bis Donnerstag.

ANNA
    Anna Stein wird bald vierzig. Sie wirkt zehn Jahre jünger. In diesem gut situierten Milieu liegt die Norm eher bei fünf. Aber das unmittelbar bevorstehende Datum und die Hexerei der Zahlen lassen sie vor Angst erstarren, sie, die sich noch im Kometenschweif ihrer Jugend wähnt. Vierzig Jahre … Denn sie stellt sich vor, dass es ein
Vorher
und ein
Nachher
gibt, wie in der Werbung für Haarwurzel-Lotionen; sie lebt bereits in der Trauer dessen, was einmal war, und in dem Schrecken vor dem, was erst noch kommen wird.
    Eine Kindheitserinnerung: Anna ist sieben Jahre alt, hat eine Schwester, zwei Brüder, der Jüngste fängt gerade erst an zu sprechen, sie ist die Älteste. Es ist nicht leicht, die Älteste zu sein, sie ist es, mit der man schimpft, denn die anderen sind noch zu klein dafür. Aber die bezaubernde Anna hat es verstanden, der Liebling ihrer Mutter zu bleiben. Sie hat ihre Geschwister im Halbkreis um sich herum aufgestellt. Das goldene Licht, das durchs Fenster fällt, ist das eines sich neigenden Tages, es ist wohl ein Sonntag auf dem Lande. Sie steht da, hat ein Buch in der Hand und liest vor. Sie würzt die Geschichte, die für ihren Geschmack zu simpel ist, mit Drachen und Feen, menschenfressenden Riesen und Prinzen,und alles wird immer verworrener, sie selbst verliert zuweilen den Faden. Die Kinder hören der fröhlichen und strahlenden großen Schwester fasziniert, gebannt, aber auch erschrocken zu. Mit großen Armbewegungen und mal springend mimt Anna die Handlung; sie achtet darauf, dass ihre Intonation die Aufmerksamkeit ihres jungen Publikums wachhält. Sie ist sich ganz sicher: Sie wird einmal Schauspielerin, oder Tänzerin, oder Sängerin.
    Mit fünfzehn Jahren bindet Anna ihre schwarzen Haare zusammen, um ihren Nacken freizulegen. Triumphierend richtet sie sich in ihrem nagelneuen Frauenkörper ein: Sie trägt hautenge Kleider mit Leopardenmuster und hohe Absätze, herausfordernde Büstenhalter. Sie träumt von einem exponierten Schicksal, einer Karriere im Scheinwerferlicht, und die Namen der Städte New York, Buenos Aires, Schanghai machen sie schwindelig. Sie gründet eine Rockgruppe, deren Sängerin sie ist. Sie tauft ihre Band
»Anna and her three Lovers«.
Denn schließlich sind der Gitarist, der Bassist und der Schlagzeuger ja auch verliebt in sie. Sie werden es alle vergeblich sein, einer ein bisschen weniger als die anderen, aber nur ein ganz klein bisschen weniger.
    Im Alter von zwanzig Jahren trägt Anna mit Eleganz den weißen Kittel der Medizinstudentin. Die Größe hat sie eher knapp gewählt, die Bequemlichkeit der Eleganz geopfert, sie trägt ihn dekolletiert, und da man sonst nur die Schuhe sehen kann, verwendet sie viel Energie auf deren Auswahl. Oft sind sie neonfarben. Die Jahre vergehen, sie wird Frau Doktor Stein. Sie ist klug, sie hat Spaß an der Sache, und sie schafft

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