Keine Angst
Heizung knackte es von Zeit zu Zeit unerträglich laut.
Endlich ging er mit Riesenschritten zum Telefon und wählte eine Nummer. Es tutete, knackte und rauschte, dann meldete sich ein Anrufbeantworter mit karibischer Musik im Hintergrund. Die Sängerin sang auswärts. Mit wem auch immer.
»Das kannst du dir abschminken«, schnauzte er ihr aufs Band und knallte den Hörer auf die Gabel.
Im übrigen konnte von wichtigen Terminen keine Rede sein, was Schlemmers Zeit betraf. Es war nur so, daß er wenig Lust verspürte, Koch zu besuchen. Weil er aber auch nicht rundheraus ablehnen wollte, hatte er den übernächsten Tag vorgeschlagen, der weit genug weg lag, um ihn erst mal verdrängen zu können, und nah genug, um sich nicht hinterher Vorwürfe machen zu müssen, Koch sei mittlerweile verstorben.
Am folgenden Morgen fand Schlemmer einen Zettel in seinem Briefkasten, dessen Inhalt sehr knapp gefaßt war und dennoch keinerlei Zweifel an der Entschlossenheit des Absenders ließ. Eine fünfstellige Zahl, ein Datum – Ende kommender Woche – sowie eine hingekritzelte geballte Faust.
Ohnehin erstaunlich, daß ihn der Wucherer zwei weitere Monate lang in Ruhe gelassen hatte. Jetzt käme also der Auftritt der Jugoslawen. Schlemmer war lang und stark, aber was nützte das gegen Brecheisen und Schlagringe?
Er überstand den Tag und die anschließende Vorstellung mit Magenschmerzen, setzte sich später zu Hause auf das teure Sofa, verfluchte es und machte eine Flasche Roten auf. Auch der Wein war teuer. Aber Schlemmer konnte nicht anders, als für jede Mark, die er verdiente, zwei auf den Kopf zu hauen, das war immer schon so gewesen.
Nacheinander ging er seine Möglichkeiten durch.
Von der Bank hatte er nichts mehr zu erwarten. Er konnte froh sein, wenn sie ihm nicht das Konto sperrten. Reiche Freunde gab’s nicht, und sein Vater verfügte zwar über beträchtliche Summen, hatte ihm jedoch vor einem knappen Jahr die notarielle Mitteilung seiner Enterbung zukommen lassen und jeden Kontakt abgebrochen. Schlemmer dachte, daß er den Alten vielleicht mal hätte anrufen sollen in den letzten Jahren, wenigstens während der Zeit, da er ihm die Schauspielschule bezahlt hatte. Nach Aufkündigung der Erbschaft war er allerdings derart gekränkt, daß er nun erst recht nicht mehr anrufen mochte. Zuvor nicht und erst recht nicht ergaben unterm Strich eine glatte Null und kaum eine Basis, die väterliche Verzeihung zu suchen. Keine Chance.
Vorschuß vom Hänneschen, noch eine Möglichkeit. Auf die erforderliche Summe würde er dabei nicht kommen. Aber selbst wenn, wovon sollte er leben? Der Gedanke fuhr ihm so sehr in die Glieder, daß er geneigt war, den Wein wieder zu verkorken, um ihn für schlechtere Zeiten aufzusparen. Dann überlegte er sich’s anders und trank die Flasche leer.
Etwas am Gefüge seiner Selbstsicherheit bröckelte. Rieselte davon wie feine weiße Bäche aus einer Sandburg, nachdem die Sonne den letzten Rest Meerwasser herausgesaugt hat. So saß er da, und seine Gefühle waren trübe wie der feine Nebelschleier, der in dieser Nacht über den Rhein und durch die Straßen Kölns trieb. Er mußte sich was einfallen lassen. Und wenn es noch so abwegig war. Er hatte Angst um sein schönes Leben und sein schönes Gesicht. Kurz fiel ihm Koch ein, der sterben würde, wenn nicht ein Wunder eingetreten war. Beinahe haßte er Koch dafür, so alt geworden zu sein.
Er war jung. Er gehörte in den Olymp, nicht in die Ambulanz mit gebrochenen Knochen oder – noch schlimmer – in einen Bleisarg. Zu allen Zeiten waren Künstler knapp bei Kasse gewesen. Wo lag das Problem?
Die Welt war ungerecht. Das war das Problem. Die Ignoranz der anderen war schuld.
Der Weg zu Koch führte unter einer hohen düsteren Einfahrt hindurch. Darüber bröckelte ein Altbau vor sich hin. Schlemmer, der mittlerweile hinter jeder Ecke unheilbringende Schatten zu sehen glaubte, beschleunigte seinen Schritt, drückte sich in den erleuchteten Hauseingang und studierte mit zusammengekniffenen Augen die Klingelschilder. Koch wohnte ganz oben. Schlemmer warf einen Blick auf die Uhr. Fünf vor halb zwölf. Bißchen spät vielleicht. Gut möglich, daß Koch schon schlafen gegangen war. Man könnte also ebensogut hinüber ins Königswasser gehen und jemand anderen treffen, mit dem es was zu lachen gäbe.
Schäm dich, dachte er im gleichen Moment, dem alten Furz geht’s schlecht, er hat keine Freunde und will quatschen. Vor lauter Reue drückte er
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