Keine Angst
ihm fern. Aber die Zeitbombe in Kochs Bauch tickte auch in seinem Kopf. Der Alte trudelte einem elenden Ende entgegen, während Schlemmer sich seltsam ausgehöhlt und hilflos fühlte. Er versuchte Trauer zu empfinden, aber die Landschaft seiner Emotionen lag flach vor ihm, und nicht mal der Gedanke an sein eigenes Sterben ließ ihn darauf hoffen, daß er für den Tod je mehr aufbringen würde als peinliches Unbehagen.
Koch ließ einige Vorstellungen platzen, schickte eine offizielle Kündigung und kam dann gar nicht mehr. Einmal wählte Schlemmer noch seine Nummer und war froh, daß niemand dranging.
Nach einer Weile gewöhnte er sich an den Gedanken, daß sich Koch in die Nichtexistenz verflüchtigt hatte. Weder hörte er, daß der Alte lebte, noch, daß er tot war. Andere Mitglieder des Ensembles wußten auch nicht mehr, als daß Koch sich endgültig in die selbstgewählte Isolation zurückgezogen hatte. Der Schutzmann war längst neu besetzt worden, ein viel jüngerer Mann aus Nippes, der seine Sache gut machte und jede Menge Blondinenwitze kannte. Malchers, der Leiter des Theaters, bemühte sich noch einige Male, Koch zu erreichen, aber jedesmal empfing ihn die Computerstimme des Anrufbeantworters, mit dem der alte Mann auf Kontaktaufnahmen zu reagieren pflegte. Wahrscheinlich würde irgendwann in der Zeitung stehen, die Nachbarn seien durch den Geruch aufmerksam geworden.
Irgend so was.
Es war zwei Monate nach Kochs Verschwinden, als Schlemmer nach Hause kam und das Telefon klingeln hörte. Weil er sich eben von der Sängerin getrennt, beziehungs-weise zugelassen hatte, daß sie sich von ihm trennte, gab er der spontanen Vermutung nach, sie habe sich besonnen und versuche nun, verlorenes Terrain zurückzuerobern. Prompt fühlte er sich einige Zentimeter wachsen und griff nach dem Hörer.
»Das kannst du dir abschminken«, sagte er.
»Schlemmer?«
Schlemmer zuckte zusammen und hielt unwillkürlich den Hörer ein Stück vom Ohr.
»Koch?« fragte er ungläubig.
»Ja.«
Er hatte nicht geglaubt, daß der Alte noch lebte. Genauer gesagt hatte er ihn so gut wie vergessen.
»Mensch, Koch!« brüllte er. »Was machst du? Wie geht’s dir?«
Am anderen Ende war einige Sekunden lang nur Rauschen zu hören.
»Gut«, erklang Kochs Stimme schließlich wieder. »Danke. Mir geht’s eigentlich ganz gut.«
»Ganz gut, sagt der Kerl! Gott und alle Menschen machen sich Sorgen! Warum hast du dich nie gemeldet? Ich hab endlos oft versucht, dich zu erreichen.«
Das war eine so unverschämte Lüge, daß Schlemmer sich wunderte, Koch ruhig und freundlich weitersprechen zu hören.
»Ich hatte damit zu tun, meine Krankheit in den Griff zu kriegen. Ich meine, da oben.«
Vor seinem geistigen Auge sah Schlemmer, wie der alte Mann sich an die Stirn tippte.
»Und was heißt das?« fragte er vorsichtig.
»Das heißt verschiedenes«, kam die unverbindliche Antwort. »Dinge, die man nicht am Telefon bereden sollte. Hast du nicht mal Lust, mich zu besuchen?«
»Was, bei dir zu Hause?«
»Naja«, sagte Koch etwas unsicher. »Wo denn sonst?«
»Ich kann mich nicht erinnern, daß du jemals eine Menschenseele zu dir eingeladen hättest.«
»Soll auch nicht einreißen. Aber dich würd ich schon ganz gern mal wiedersehen. Wenn du magst, natürlich nur.«
»Natürlich, Koch, natürlich.« Schlemmer schüttelte das Unbehagen aus seinen Gliedern. »Wie schön. Sag nur wann. Ich hab dir eine Menge zu erzählen, die Theaterleute sind ganz geil auf mich.«
»Ah! Das klingt ja prächtig. Also, sagen wir … wie war das noch? Laßt es nicht länger als drei Tage dauern?«
Schlemmer glotzte verständnislos in den Hörer.
»Was meinst du?«
»Shakespeare, Othello. Dritter Akt, glaube ich.«
»Ach so«, rief Schlemmer begeistert. »Ja ja! So bald als möglich, deinethalb! Gleiche Szene. Warte mal, heute kann ich nicht, wichtige Termine nach der Vorstellung. Morgen ist auch vertrackt, zu blöde, aber übermorgen. Was hältst du von elf Uhr, da können wir noch einen heben.«
»Gut. Einverstanden.«
Koch gab ihm seine Adresse in der Aachener Straße, gleich neben Millowitsch, und legte auf. Schlemmer starrte vor sich hin und schüttelte dann den Kopf.
»Tja«, sagte er. »Tja.«
Eine Weile lief er wie aufgescheucht durch seine Wohnung und betrachtete sich mehrfach im Spiegel. Dann saß er rund zwanzig Minuten auf der Kante seines viel zu teuren Wohnzimmersofas, bereit zum Sprung.
Die Wohnung war still wie ein Grab. Nur in der
Weitere Kostenlose Bücher