Keine E-Mail fuer Dich
aber gedanklich ganz weit weg vom Gegenüber, denn meist wird dem Handy mehr Aufmerksamkeit gewidmet als dem Mensch, der gegenübersitzt. In besonders ausgeprägten Fällen würde ich solche Personen als Soziopathen bezeichnen. Sie sind nur noch eingeschränkt fähig, mit Menschen zu kommunizieren, ignorieren und vernachlässigen persönliche Kontakte und können sich schwer in andere hineinversetzen. Es zählt nur noch die eigene Erreichbarkeit, die eigene Wichtigkeit, die eigene Inszenierung. Ohne Mobiltelefon wären solche Personen verloren, denn es ist Voraussetzung für die eigene Identität.
Ein Klient kam regelmäßig immer zwei Stunden in meine Sprechstunde, damit wir für das, was wir eigentlich in einer Stunde besprechen wollten, zwei Stunden Zeit hatten. Sein Handy lag auf der Couch neben ihm, und ständig wurde er angerufen. Sein Telefon wollte er auch während der Sitzung nicht ausmachen, schließlich müsse er erreichbar sein, er sei immerhin Geschäftsführer. Irgendwann sagte ich ihm, dass er sein Handy nicht braucht und ich ihn auch ohne großen Auftritt mag. Unsere Stunden wurden deutlich entspannter, und er stellte sein Telefon sogar auf lautlos, wenn er in die Praxis kam.
Menschen entwickeln merkwürdige Verhaltensmuster durch Handys, da der Wunsch nach Anerkennung im sozialen Umfeld im Vordergrund steht. Digitale Geräte selbst sind nicht das Problem, sie werden nur gezielt genutzt. Die Ursache abwegiger Verhaltensweisen liegt in jedem selbst. Trage ich ein Handy mit Kopfhörern mit mir herum, signalisiere ich, dass ich nicht angesprochen werden möchte. Mobiltelefone an sich werden nicht nur zur Kommunikation genutzt, sondern auch für soziale Interaktion, z. B. um Fotos zu machen und anzuschauen, die besagten Klingeltöne auszutauschen. Das Gerät hilft, mit anderen in Kontakt zu kommen, und lässt andere auch auf Distanz an mir teilhaben. Das hilft dem Handybesitzer, seinen eigenen Mangel an echten Kontakten zu kompensieren.
Das wichtigste Motiv bei Online-Kommunikation ist Beziehungsmanagement. Kontaktpflege und Kontaktintensivierung sind hier bedeutsam, ebenso wie das Bedürfnis, nicht ausgeschlossen zu sein. Die Risiken einer zu freizügigen Datenfreigabe sind allerdings immer da. Heute darf man nicht in Gefahr geraten, zum Außenseiter in einer sozialen Gruppe zu werden, darum ist man fast genötigt, in einem sozialen Netzwerk angemeldet zu sein. Wer noch nicht angemeldet ist, wird ständig dazu gedrängt, ansonsten ist er isoliert. Die online gepflegten Beziehungen weisen zwar hohe Überschneidungen mit den Beziehungsstrukturen außerhalb des Internets auf, dennoch wird das soziale Netzwerk meist auch für lockere Beziehungen genutzt (z. B. ehemalige Klassenkameraden, Urlaubs- oder Partybekanntschaften), um bei Bedarf darauf zurückgreifen zu können. Es wird somit eher wie ein elektronisches Adressbuch genutzt, als dass tatsächlich Kommunikation stattfindet.
Beziehungen werden heute mittels Technik koordiniert. Der andere kann ständig kontrolliert werden: »Wo bist du?«, »Was machst du gerade?«, »Schlaf schön«, »Träum süß«.
Man kann auch von technischer Beziehungsgestaltung sprechen, denn ohne digitale Geräte scheint es heute so gut wie unmöglich zu sein, eine Beziehung zu führen und Konflikte zu lösen. Das digitale Gerät als Zwischenmedium schafft Distanz und Unabhängigkeit, es wird anders kommuniziert. Ich beobachte einen Verlust der körperlichen Nähe, die über suggerierte Nähe mittels mobilen Kommunikationsgeräten ersetzt wird. Dabei entsteht eine »virtuelle Intimität«, die mit realer Intimität wenig zu tun hat. Es wird sich durch die Beziehung telefoniert, gesimst, gemailt und geskypt. Die Kommunikation wird möglichst emotional und empathisch gestaltet, um »die Beziehung weiterhin am Laufen zu halten«. Dem Wort »Beziehungsarbeit« kommt eine ganz neue Bedeutung zu, da es tatsächlich in technische Arbeit ausartet, die sich der Mensch zunutze macht. Die Beziehung muss per SMS ständig bestätigt werden, wird aber auch gern per SMS beendet, weil es so schön einfach ist. Der Beschleunigung sei Dank können sich Mann und Frau binnen Sekunden oder Minuten gegenseitig ihrer Gefühle vergewissern. Der gute alte Liebesbrief ist ausgestorben.
Das digitale Gerät kann Konfliktlöser, aber auch Konfliktverursacher sein und noch mehr Distanz zwischen zwei Menschen herstellen. Eine typische Situation für eine Konfliktverursachung ist die Nichterreichbarkeit
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