Keinen Plan, ein Paar Socken und 1000 km vor sich ...: Der Jakobsweg aus Sicht eines Rheinländers (German Edition)
stiefeln los. Ich hätte mir, als ich den Burschen das erste Mal in Navarette getroffen habe, auch nicht träumen lassen, mehrere Etappen mit ihm zu gehen. Und dann auch noch nur zu zweit! Er hatte damals und auch heute brasilianisches Temperament. Laut, überschwänglich, fröhlich, freundlich, liebenswert. In Navarette habe ich jedoch mehr das Laute wahrgenommen und Distanz gewahrt. Hinzu kommt doch das ein oder andere Verständigungsproblem. Aber in den letzten Tagen habe ich den verrückten Kerl, den jeder auf dem Camino, der ungefähr unser Tempo geht, kennt, wirklich ins Herz geschlossen. Dieser Mann ist ein Phänomen und auf seine Art und Weise auch ein Vorbild für mich. Er ist 35, hat noch nie Sport gemacht und ist offensichtlich in Brasilien bei der Ausrüstungswahl falsch beraten worden. Man hat ihm einen Schlafsack verkauft – es ist in Europa ja wirklich kalt um diese Jahreszeit – der ihn auch bei zweistelligen Minustemperaturen schön warm hält. Seine ersten Schuhe müssen definitiv zu klein gewesen sein,; er hat drei Zehennägel verloren. Außerdem hat er an wirklich jeder Zehe schon Blasen gehabt und „unterhält“ auch stets mindestens 7. Die Fersen waren schon einmal wund, die Knie tun weh, derMuskelkater bleibt bis zum Schluss und ja, einen Wolf gelaufen hat er sich auch. Noch Fragen? Bei dem Gedanken muss ich mir Gabi mit ihrer unverwechselbaren „positiven Art“ vorstellen und wie sie reagiert hätte. Aber auch die meisten anderen – inklusive mir – hätten wohl nicht seine Fröhlichkeit an den Tag gelegt. Ich habe ihn nie klagen hören. Sicherlich, manchmal sagt er, dass die Beine müde sind und dass der Wolf unangenehm ist … aber kein Geschimpfe, kein Fluchen … nichts. Da darf man sich eine oder auch zwei Scheiben abschneiden. Er hatte zwar in Burgos – dem Scheitelpunkt seiner Schmerzen – überlegt, abzubrechen, aber er ist noch hier. Stattdessen hat er bis Santiago dem Bier abgeschworen, der Rasur, seinem Haarschnitt und er hat sich fest vorgenommen mindestens bis Santiago zu gehen. Einen Biss mit gleichzeitiger Leichtigkeit, was die Lebenseinstellung eingeht, die ich mir manchmal von mir selbst und meiner Umgebung wünschen würde!
So gehen wir knapp eine Stunde, als wir für ein Foto von mir anhalten. Da holt uns Annina ein … sie ist ein bisschen später als wir losgegangen, aber was eine waschechte Österreicherin ist, hat eine ordentliche „German pace“. Wir gehen gemeinsam weiter bis zur nächsten Rast in Samos. Sandy ist gestern, so hörte ich, mit einer Frau aus Seattle bis hierhin gegangen. Er ist also irgendwo vor uns. Wir gönnen uns unser wohlverdientes zweites Frühstück. Noch nicht lange als Trio Pause machend, trudeln nacheinander Nikki, Catia und Andreas ein und gesellen sich zu uns. Die Pause wird ausgedehnt. Andreas wird hier bleiben. Seine Beine machen immer noch Probleme. Er will morgen früh um 7:00 Uhr den Bus nehmen. (Nachher, aber eben erst nachher, fällt mir ein, dass morgen Sonntag ist und ich überrascht wäre, wenn dann ein Bus fahren würde. Aber es fällt mir halt zu spät ein, um noch was zu ändern!) So gehen wir ohne Andreas weiter – ich brauche neue Halstabletten, irgendwie wird es nicht besser. In der Apotheke gibt es sogar eine Waage. Mein schon lange gefasster Entschluss, mal das Realgewicht meines Rucksackes festzustellen, wird in dieTat umgesetzt. Nebenbei erfahre ich, dass ich doch das ein oder andere Kilo verloren habe. Und das bei meiner derzeitigen Ernährung aus Kohlenhydraten, Fett und sogar Vitaminen. Nun der Rucksack hat zumindest kein Gewicht verloren – die Waage gibt stolze 15,6kg an. Wenn man dazu rechnet, dass die Wasserflaschen nicht ganz voll sind, und berücksichtigt, dass die Cilantroflasche auch schon halb leer ist, kommt man auf runde 16kg, die ich zu Spitzenzeiten mit mir rumschleppe. Eigentlich ist es total bescheuert, soviel Kram mitzunehmen, aber warum sollte ich was wegschmeißen oder für teuer Geld nach Hause schicken, wenn ich keine Probleme habe. Tatsache ist allerdings auch, dass sämtliche Pilgerratgeber tunlichst raten, die 10kg Rucksackgewicht nicht zu überschreiten. Bei der zweiten Pause am heutigen Tage versucht sich Alex in deutschen Wegbeschreibungen. Ich muss schon sehr genau hinhören, um etwas von seinem Vorgelesenen zu verstehen. Die Brasilianer – portugiesisch sprechend – formulieren aus bestimmten Konsonantenfolgen ganz andere gesprochenen Laute als unsereins. Deutsch hört sich
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