Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Keinmaerchen

Keinmaerchen

Titel: Keinmaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil
Vom Netzwerk:
sich den Finger (das Ohr und sein Inhalt, wir erinnern uns) an seiner Jacke ab und steht ächzend auf. “Hast du die Frequenz der Wellen überprüft?”
    “Ja, alles okay mit den Frequenzen. Das Problem muss irgendwo anders liegen, aber ich kann es nicht finden.”
    “Wahrscheinlich nur wieder eine dieser Anomalien in der Atmosphäre. Ich werde das selbst überprüfen.” Er geht durch die Tür, wendet sich noch einmal um und sieht seinen Assistenten unter zusammengezogenen Brauen streng an. “Du lässt die Finger von den Kameras, verstanden?”
    “Jawohl, Chef!” Der Dürre salutiert und schafft es sogar, dabei äußerst pflichtbewusst auszusehen, und nicht sehnsüchtig auf die bunten Knöpfe, Regler und Hebel zu starren.
    Der Konstrukteur betritt die erste Treppenstufe und drückt einen grünen Knopf. Der Generator springt mit einem Husten an, die Stufe beginnt zu vibrieren und kitzelt an seinen nackten Fußsohlen. Er kichert und hält sich am Geländer fest, als die Treppe sich in Bewegung setzt und langsam abwärts bewegt. Wie immer wird ihm dabei ein wenig übel. Er mag keine Wendelrolltreppen, aber die 874 Stufen zu Fuß hinabsteigen mag er noch weniger.
    Endlich unten angelangt, betritt er den Arbeitsbereich seines Assistenten und stößt den Atem durch die Zähne aus. Auf dem Steuerpult stapeln sich leere und halbleere Pizzaschachteln, in denen undefinierbare Substanzen … tanzen? Wohl kaum, doch sie scheinen sich zu unhörbarer Musik zu bewegen, was durchaus ein reizvolles Schauspiel ist, im Moment aber nicht Zweck seines Besuches.
    Er kontrolliert die Frequenzen, die tatsächlich korrekt sind, dann setzt er eine der Visualisierungsbrillen auf und zappt durch die Realitätsebenen, bis er eine Totale des Zwischenreichs auf dem Schirm hat. Der Dürre hat recht, verdammt, die Grenzen weisen unregelmäßige Lücken auf, durch die bereits andere Realitäten zu erkennen sind. Er kratzt sich am Kinn und drückt gedankenverloren an einem Pickel herum. Wie konnte das passieren? Die Geräte sind nicht mehr die neuesten, aber voll funktionstüchtig. Keine Unregelmäßigkeiten zu erkennen. Aber irgendwas ist faul. Er muss seine Berechnungen überprüfen. Er seufzt. Also wieder nach oben …

Nemesis
    Ich kann sie hören, die dampfenden Eisengefährte, die die Menschenkinder durchs Schattenreich führen. Ich kann ihr Pfeifen hören und das Quietschen, das Dröhnen und Rumpeln. Und ich kann die Schreie meiner Brüder hören, die sich unter die mahlenden Räder werfen, um ihren Qualen ein Ende zu bereiten und endlich schlafen zu können. Ich kann sie nicht retten, sie haben ihre Wahl getroffen. Fatum.
    Ich muss mir einen Platz suchen, an dem ich die Zeiten überdauern, an dem die Furcht mich nicht finden kann. Es ist das Schattenreich und doch ist es das nicht. Kann ich meinen Augen trauen? Meiner Nase, meinen Ohren? Ist das der gleiche Teergestank, das gleiche Wellenrauschen, die gleiche schmutzigschwarze Düsternis, die die Laute hohl und fern klingen lässt, auch wenn sie näher sind, als meine Arme reichen?
    Schon spüre ich die Wärme aus meinen Gliedern weichen, das Atmen fällt schwer, die düsteren Partikel in der Luft setzen sich in meinem Rachen fest und erinnern mich bei jedem Schlucken daran, dass meine Lebensspanne hier im Reich der Schatten nicht länger dauern mag, als die Lebensspanne einer Götterfrucht.
    Ich muss in Bewegung bleiben, darf nicht rasten, bevor ich einen sicheren Ort erreicht habe. Doch was ist sicher im Schattenreich? Eines nur: Sie . Sie wird mich finden, früher oder später wird sie mir die letzte Wärme nehmen und mich in ihrem Angesicht zu einem greisen Kind erstarren lassen. Zitternd und greinend, in meinen eigenen Exkrementen kauernd, die Hände bittend erhoben, das Gesicht im heißen Teer. Ich bin so voller Abscheu gegen mich selbst. Ich alter Narr, blindes Opfer, lächerlicher Krieger, der sich trügen lässt von Bildern. Jedes erstgehäutete Kind hätte mehr Verstand gezeigt, als ich es tat. Nun muss ich meine Bürde tragen, muss mich ducken und kauern, wo ich lieber aufrecht sterben würde, muss hoffen und bangen, wo ich lieber Herr meiner Taten wäre. Ich fürchte nicht den Tod, nicht das Sterben, nicht die Einsamkeit und keinen Schmerz, doch wer könnte sich nicht fürchten in Ihrem Angesicht. Im Angesicht all dessen, was tief in meinem Herzen, tief in meiner Seele verborgen liegt.
    Furcht, jämmerliche Hexe, geiferndes Biest, ich werde nicht hier sterben, die Zeit

Weitere Kostenlose Bücher