Keinmaerchen
"Ich kann nicht nach Hause." Er deutete auf das Mädchen. "Wo bringst du sie hin?"
"Zum Turm."
"Warum?"
Warum? Weil das das einzige Ziel war, das Einzige, was existierte. Das Einzige, was ihn davon abhielt, einfach die Augen zu schließen und sitzen zu bleiben, bis die Furcht ihn fand, die Arme um ihn schlang und ihn aussaugte und seine leere Hülle in tausend Fetzen riss. "Weil ich sie dort hinbringen muss", sagte er und hob den Körper des Mädchens vom Boden. Sie war noch schwerer geworden, hing wie ein Sack voll Blei in seinen Armen. Stöhnend und mit knirschenden Gelenken erhob er sich und setzte seinen Weg fort, ohne den Jungen zu beachten, dessen Schritte er hinter sich hörte.
"Es ist so still hier", sagte der Junge nach einer Weile. "Still und leer und es riecht komisch." Er zog die Nase hoch und schniefte, seine Stimme zitterte, als er weitersprach. "Es gibt hier gar keinen Bahnhof."
Conchúbars Arme und Beine schmerzten, er konnte kaum noch die Füße dazu bewegen, den nächsten Schritt zu tun. "Dafür gibt es jede Menge Nichts", sagte er kalt und bereute sogleich seine Worte. Hinter ihm lief nunmehr nicht nur der Junge. Sie setzte die Schritte geschickt, passte sich dem Gang des Jungen an, doch Conchúbar konnte sie atmen hören, spürte ihr Grinsen, ihre scharfen Blicke in seinem Rücken. Vermaledeites Kind! Er hatte sie auf ihre Fährte gelockt. Die Fäuste geballt, die Blicke starr auf den Turm gerichtet lief Conchúbar weiter. Einen Fuß vor den anderen, links und rechts und links und rechts. Nicht umdrehen, nicht denken, nicht zulassen, dass sie Macht über mich gewinnt.
Der Schrei des Jungen schnitt in seine Sehnen und Muskeln und fast hätte er das Mädchen fallen gelassen. Nicht denken, nicht umdrehen … Er zwang sich tief und gleichmäßig zu atmen, zwang seine Füße voran, zwang seinen Blick nach vorne und spürte, wie die Furcht schwächer wurde, sich zurückzog und schließlich verschwand. Keine Schritte folgten ihm mehr, nur der Schrei des Jungen hallte tausend- und abertausendfach vervielfältigt durchs Nichts. Sie hatte keine Macht über ihn gewonnen, sie hatte ihn nicht bezwungen, sie hatte ihn nicht einmal erreichen können. Was bedeutete da ein Menschenkind. Eins mehr oder weniger, darauf kam es nicht an.
Er strich dem Mädchen eine Strähne aus der Stirn und schluckte hart.
Weiter und weiter folgte er den Lichtstrahlen und kam seinem Ziel doch keinen Schritt näher. Wie lange würden ihn seine Füße noch tragen? Wie lange konnte er das Mädchen noch festhalten? Die Muskeln in seinen Armen brannten, als stünden sie tatsächlich in Flammen. Und roch es nicht nach Rauch, nach verbranntem Fleisch, nach angesengten Haaren?
Zu seiner Rechten erhoben sich die Purpurberge, groß und mächtig überragten sie die Schmetterlingsbäume, die ihre Blüten fest geschlossen hatten. Sie würden sich erst öffnen, wenn die Sonne sank. Conchúbar hoffte, dass er ihren Gesang hören würde, am Morgen, kurz vor Sonnenaufgang. Wie hatte er diese Stunde geliebt. Die Stille, die sich über alles breitete und das Land in Taubenfedern hüllte. Er schloss einen Moment die Augen und roch den Tau auf den Blüten, spürte den kühlen Sand unter den schmerzenden Fußsohlen.
„Lass sie nicht fallen.“
„Was?“ Conchúbar riss die Augen auf.
„Lass sie nicht fallen. Bitte“, wiederholte der Junge.
Conchúbar starrte die Gestalt an, die am Wegrand kauerte. „Du bist tot“, sagte er.
Der Junge senkte den Kopf, seine Schultern zitterten, und Conchúbar rieb sich die Schläfe. Der Junge. Die Furcht hatte ihn eingeholt, hatte ihn mit Haut und Haar verschlungen. Hatte sie das? War das wirklich passiert oder hatte sein Gehirn ihm etwas vorgegaukelt? Nein. Der Schrei war real gewesen, er konnte ihn immer noch spüren. Aber er wollte ihn auf keinen Fall noch einmal spüren.
„Du kannst nicht mit mir gehen“, sagt er. „Bleib hier und warte. Bald kommt …“ Er suchte nach dem Wort, das der Junge gebraucht hatte. „Demzug?“
Der Junge sah ihn fragend an, dann hellte sich sein Gesicht auf. „Der Zug!“, rief er und sah sich um. „Aber hier gibt es keinen Bahnhof. Hält der Zug denn hier?“
Conchúbar nickte und setzte seinen Weg fort. Er konnte sie bereits spüren, auch wenn sie noch klein und fern war, aber sie würde wachsen, würde kommen, würde nach ihm greifen.
„Bist du sicher?“, hörte er die Stimme des Jungen hinter sich rufen. Nicht umdrehen, nicht stehenbleiben, weitergehen,
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