Keinmaerchen
meines Todes liegt fern, noch zu verschwommen und unklar schimmert sie in meines Vaters Stundenglas. Du wirst mich nicht sterben sehen. Nicht hier. Eher verschließe ich mein Herz und meine Augen mit Pfropfen aus getrocknetem Blut. Verstopfe meine Ohren mit Teer und vernähe meine Lippen mit den Därmen meiner zerfetzten Brüder, die sich neben den Gleisen häufen, wie achtlos weggeworfenes Fleisch.
Schon einmal bin ich erstarkt aus dem Schattenreich hervorgegangen und ich werde es wieder tun. Mein Zorn lässt mich die Unzeiten überdauern, hält mich bei klarem Verstand. Mein Hass nährt mich, lässt mich ertragen, was zu ertragen ist. Furcht? Ich spucke ihr ins Angesicht. Fürchten kann sich nur der, der noch Gefühle in sich trägt. In mir ist kein Platz mehr für solcherlei Dummheiten. Ich bin ausgefüllt mit Zorn. Voll bis zum Rand und darüber hinaus.
Conchúbar
In Strömen rann der Schweiß über Conchúbars Gesicht, seinen Hals und seinen Rücken hinab, mit jedem Schritt schien der leblose Körper in seinen Armen schwerer zu werden. Der Weg aus Licht war kalt, so kalt, lähmte die Nerven in Conchúbars Füßen, ließ seinen Gang hölzern werden wie den einer Marionette. Und er fühlte sich auch, als zöge ihn jemand an Fäden voran, lenkte ihn nach seinem Willen, spielte mit ihm.
Schritt für Schritt, weiter und weiter, den Blick immer auf das kalte weiße Licht vor seinen Füßen gerichtet. Schon vor Zeiten hatte Conchúbar es aufgegeben den Turm anzusehen. Wenn er ihn ansah und erkannte, dass er noch genauso weit entfernt war wie zu Anfang, dass er seinem Ziel nicht einen Deut nähergekommen war, dann machte sich Verzweiflung in seinem Herzen breit und das durfte nicht sein. Er wusste, wenn er der Verzweiflung sein Herz öffnete, würde die Furcht ihn finden. Verzweiflung und Furcht begleiten einander wie Schwestern, gehen Hand in Hand und lachen in den gleichen Tönen.
Wie lange konnte der kleine Körper überdauern, ohne Sauerstoff, ohne Wasser? Wie lange, bis er verdorrte wie Fallobst?
Die Zeit ist trügerisch, wenn das Auge nichts hat, an dem es sich orientieren, wenn der Geist nichts wahrnimmt, an das er sich klammern kann. Kein Morgen, kein Abend, kein Frühtau, kein Abendrot, keine Veränderung in der Luft, kein Wispern des Bodens, kein Regen, kein Schnee, kein Warm, nur das Kalt unter Conchúbars Sohlen, das er schon gar nicht mehr spürte. Nichts.
"Lass sie nicht fallen."
Erst Sekunden später realisierte Conchúbar, dass er tatsächlich eine Stimme gehört hatte. Er sah sich suchend um und schüttelte den Kopf. Das musste am Nichts liegen, das Gehirn beschwor Dinge herauf, die nicht vorhanden waren, um das Nichts mit irgendetwas auszufüllen. Schon senkte er wieder den Kopf, doch da erkannte er eine schemenhafte Gestalt auf dem nichtvorhandenen Boden neben dem Weg kauernd. "Was?", fragte er. "Was hast du gesagt?"
"Lass sie nicht fallen", wiederholte die Gestalt. "Bitte."
"Das werde ich nicht, keine Sorge." Er beugte sich zu dem Jungen hinab, denn es war ein Junge, wie er jetzt erkannte, weil die Gestalt dinghafter wurde. Realer. "Was tust du hier? Ist das nicht ihr Traum?"
Der Junge zuckte mit den Schultern und sah sich um. "Ich weiß nicht", sagte er dann unsicher. "Ist das ein Traum?"
Vorsichtig kniete Conchúbar auf den Lichtlinien nieder und legte den schlaffen Körper des Mädchens ab. Er drückte den Rücken durch und wischte sich den Schweiß von der Stirn. "Wie bist du denn hierher gelangt?"
"Mit dem Zug."
Auch Conchúbar sah sich noch einmal um. Immer noch nichts als Nichts um ihn herum. Er hatte kein Geräusch gehört, keine Veränderung gespürt und von einem Transportmittel, das Demzug hieß, hatte er noch niemals gehört. "Was ist Demzug?"
"Eine Eisenbahn", erklärte der Junge. "Eine Lokomotive", fügte er hinzu, als er Conchúbars ungläubigen Gesichtsausdruck sah, "mit Waggons, in denen die Passagiere transportiert werden. Sie fährt auf Schienen und im Bahnhof hält sie und man kann ein und aussteigen." Dann stockte er und zwischen seinen Augen bildete sich eine Falte, die ihn älter erscheinen ließ. Älter und ängstlicher. "Hier gibt es keine Schienen", flüsterte er. "Und keinen Bahnhof. Aber wie …"
Conchúbar spürte die Furcht und legte die Hand auf den Arm des Jungen. "Bestimmt kann man ihn im Moment nur nicht sehen", sagte er. "Wir finden deinen Bahnhof. Und dann fährst du nach Hause."
Unsicher lächelte der Junge, aber seine Augen schimmerten feucht.
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