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Keinmaerchen

Keinmaerchen

Titel: Keinmaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil
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einen Schritt nach dem anderen. Wie viele Schritte war er gegangen, als der Schrei des Jungen endlich durchs Nichts hallte? Und immer noch kam er seinem Ziel nicht näher. Wütend ballte er die Fäuste. Was sollte das? Was war das nur für ein Ort? Würde er laufen und laufen, bis er einfach tot zu Boden sank? Konnte er da nicht genauso gut stehenbleiben und warten, bis sein Ende gekommen war? Aber er musste zum Turm, musste sein Ziel erreichen, was es auch kostete. Sein Organismus war an den Grenzen seiner Leistungsfähigkeit angelangt, sein Herz pumpte laut und dröhnend, in seinen Ohren brummten Bienenschwärme, vor seinen Augen flirrten heiße Farben.
    „Lass sie nicht fallen.“
    Mit einem Schluchzen sank Conchúbar auf die Knie, presste sein Gesicht in die Halsbeuge des Mädchens. Nein! Neinneinnein.
    Und schon hörte er ihren schlurfenden Gang, ihr rasselndes Atmen, das Knirschen ihrer Zähne. Und ihr Lachen. Sie würde ihn nicht bekommen. Nicht ihn, Conchúbar, nicht das Mädchen. Auf die Füße, Schritt und Schritt und Schritt, laufen und nach vorne sehen, warten auf den Schrei des Jungen, der hallt und hallt und wiederhallt, und weiter gehen, weiter, weiter.
    „Lass sie nicht fallen.“
    Tränen trübten Conchúbars Blick, nahmen ihm den Atem, schnürten ihm den Hals zu. Vorbei an der kauernden Gestalt, nicht beachten, nicht hinsehen, nicht zurücksehen. Sie kommt, geifert, knirscht und schlurft, sie streckt ihre Arme aus. Der Turm – so weit weg. Das Mädchen – so schwer. Die Füße – wund und blutend. „Halt!“ Die Stimme erschreckte ihn, ließ ihn stoppen. Sie kam, sie war schon ganz nah, er konnte ihren fauligen Atem riechen, spürte ihn in seinem Nacken. Halt. Was tat er denn? Was machte sie aus ihm? Einen Narren. Einen sabbernden Feigling. Halt. Das war seine Stimme und sie hatte recht. Genug gelaufen, genug.
    Vorsichtig legte er das Mädchen auf den Lichtstrahlen ab, schöpfte Atem, suchte Ruhe in sich selbst. Er war kein Narr, kein Feigling, keiner, dem sie etwas anhaben konnte. Er war Conchúbar Jahim. Jäger.
    Er drehte sich um, sah der Furcht ins Gesicht. Sie hatte den Jungen erreicht, hielt ihn in den Armen, zog ihn an sich, leckte ihm mit ihrer schwärenbedeckten Zunge über die Wange. Und dann sah sie in Conchúbars Augen. Seine Augen, sein Gesicht, seine Hände, die die Kehle des Jungen umschlossen und ihm das Leben aus dem Leib pressten. Kraftlos ließ er die Arme sinken, wehrte sich nicht einmal mehr. Ergab sich der Furcht, die ihn mit Conchúbars Händen erdrosselte, in seine Kehle griff und ihm das Herz herausriss. Es schlug noch. Pochte und pumpte. Blut lief an seinem Unterarm herab, sammelte sich in seiner Armbeuge. Es war warm und dunkel und roch köstlicher als der schwere Wein, den sein Vater aus den reifen Körpern der Schattenfüßler gewann.
    Dann ließ er den leblosen Körper fallen und er vermischte sich mit dem Nichts. Die Konturen verschwammen, das Fleisch bröselte von den Knochen wie altes Brot, wurde eins mit der Leere und verschwand. Stille. Atmen. Zitternde Hände. Das zweite Kind, das durch Conchúbars Hand dem Tod in den hungrigen Rachen geworfen wurde. Aber der Tod des Jungen diente einem Zweck, er war unausweichlich gewesen, nötig.
    Der erste Schritt, der zweite, immer ins Nichts lauschen. Wo war die Furcht? Weg. Weit weg. Er hatte richtig gehandelt. Also weiter, den Lichtstrahlen folgen, nicht das Ziel aus den Augen verlieren. Der Turm. Er schien größer geworden zu sein. War er ihm näher gekommen? Sicher war er das, er musste sich angenähert haben. Er musste. Und wieder einen Fuß vor den anderen setzen. Das Gewicht des schlaffen Körpers auf den anderen Arm verlagern. Immer weitergehen, nicht aufgeben, dann würde er es schaffen. Schritt und Schritt und Schritt …
    „Lass sie nicht fallen.“
    Conchúbar sah dem Jungen lange ins Gesicht. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, als hätte er lange schon nicht mehr geschlafen. Eine ungesunde Blässe überzog die Wangen. An seiner Nase klebte etwas Weißes. Conchúbar wischte es weg, atmete tief durch und spürte ein Gefühl in sich aufsteigen, warm und schwer bereitete es sich den Weg aus dem Magen, durch den Hals, bis in die Augen. Er blinzelte es fort und sagte: „Komm. Wir finden deinen Bahnhof. Und dann fährst du mit Demzug.“
    Der Junge lächelte und Conchúbar lächelte zurück. Und als die kleinen Finger sich in seinen verschränkten schüttelte er sie nicht ab.
    Sie liefen schweigend auf dem

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