Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Keinmaerchen

Keinmaerchen

Titel: Keinmaerchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone Keil
Vom Netzwerk:
wird sich eurer Namen erinnern, niemand wird eure Seelen ins Land eurer Väter geleiten, denn meine Brüder haben sie euch genommen.
    Mit jedem Schritt, den ich mich dem Ziel nähere, wächst mein Zorn. Und auch meine Brüder werden zorniger. Das ist gut. Ihr Zorn treibt sie voran, ihr Zorn lässt die Starre von ihnen abfallen wie Wasser. Sie werden die Menschensiedlungen überfluten, werden all das jämmerliche Leben vernichten, werden zurückerobern, was uns zusteht. Wir gebieten dem Sand, wir gebieten der Zeit. Auch wenn die Stundengläser meiner Brüder zerbrochen sind, auch wenn sie nicht mehr die sind, die sie einst waren, gebührt ihnen dennoch ein Platz am Fuße der purpurnen Berge, von wo sie entstammen. Wir sind ein Fleisch, ein Blut, eine Kralle, die in die Kehlen der Menschen greift, ihre Herzen herausreißt und zerdrückt wie Sandfalter.

Pritunia
    Kopfschmerzen, trockene Lippen, eine Zunge, die wie eine tote Made am Gaumen klebt. Sie hustet und befühlt die Beule am Hinterkopf. Es ist stockfinster. Warum hat die Mutter das Nachtlicht ausgeschaltet? Sie war nicht böse, es gab keinen Grund dazu.
    “Mama?” Nur ein ängstliches, heiseres Flüstern. Sie tastet nach Bozo, nach seinem weichen Stoffkörper, dem viel zu großen Kopf, die Plastiknase, die im Dunklen leuchtet, wenn man fest darauf drückt. Sicher ist er aus dem Bett gefallen. Hoffentlich nicht unter das Bett. Das Bett. Das Bett? Zu hart, zu kantig, keine Matratze, kein Laken.
    “Mama?” Jetzt lauter, noch ängstlicher. War sie vielleicht doch böse und kann sich nicht daran erinnern? Böse Kinder müssen bestraft werden, damit sie zu guten, wertvollen Mitgliedern der Gemeinde werden. Und manchmal müssen sie in den Keller, ins Dunkel, wo sie über ihre bösen Taten nachdenken können.
    Aber das ist nicht der Keller. Es riecht anders. Muffig und staubig. Es riecht uralt und krank wie die Großmutter, bevor es zu Ende ging. Es geht bald zu Ende, hatte die Mutter gesagt. Erst, als Großmutters Sarg in der Erde verschwand, war ihr klar geworden, was das bedeutet. Zu Ende. Tot. Es riecht nach Sterben.
    Ihre Zähne schlagen hart aufeinander, die Hände zittern, als sie die Stufen abtasten. Sie liegt am Fuß einer Treppe. Das ist nicht der Keller, aber sie ist irgendwo tief unten. Unter der Erde. In einem riesigen Grab. Sie schluchzt auf. Nicht weinen. Nur nicht weinen. Gott hilft denen, die sich selbst helfen, und er mag keine Heulsusen. Heulsusen lassen sich gehen und stehen dann mit unehelichen Kindern da. Mit Kindern, die böse sind, weil sie das in den Genen haben . So wie ihre Väter, die abhauen und die Heulsusen mit den Bälgern alleine lassen.
    Sie muss nach oben. Oben ist alles besser und vielleicht ist die Mutter wieder gut mit ihr und vergibt ihr das Böse, das sie sicher getan hat und weswegen sie nach unten musste. Ins Dunkel. Ins muffige Dunkel.
    Stufe für Stufe. Auf Händen und Knien. Die Handflächen schmerzen, aber das macht nichts, Schmerz ist gut, er zeigt bösen Kindern, was richtig und was falsch ist.
    Ein Rucken und die Treppe bewegt sich. Bewegt sich nach unten! Ruckt und rumpelt und steht wieder still. Und jemand kommt die Treppe herunter. “Ma…” Nein. Das ist nicht der Schritt der Mutter. Ihre Absätze klappern, aber das sind bloße Füße, die die Stufen hinabsteigen. Und jemand keucht. Jemand?
    Lähmende Angst und Schweiß, der in die weit aufgerissenen Augen tropft. Sie muss weg. Weg von der Treppe. An der Wand entlang, langsam und leise. Nicht zu laut atmen und nicht weinen. Bloß nicht weinen! Endlich ein Lichtschalter. Aber dann wird er sie entdecken. Er oder sie. Oder es. Aber das ist egal, alles ist besser als diese Dunkelheit, die nach Tod riecht und so dick und zäh ist, dass sie an der Haut und den Haaren kleben bleibt wie Ahornsirup.
    Wieder rumpelt es und etwas kracht neben ihr zu Boden, schließt sie in einem engen Käfig ein und fährt noch tiefer hinab. Noch weiter nach unten, hinein in die Erde, dieses riesige Grab.
    Die Gitterstäbe öffnen sich. Ein Generator brummt. Lichtblitze zucken durch die Schwärze. Sie hebt die Hände vor die Augen, schützt sie vor dem grellen, funkensprühenden Licht. Es schmerzt nicht auf der Haut, aber es ist unangenehm. Es fühlt sich warm an und … lebendig. Die Lichter folgen ihren Bewegungen, tanzen auf den Handflächen, hüpfen ihre Arme hinauf, über das Gesicht, den Hals hinab, überqueren den Körper, die Brüste, den Bauch. Schmutzig. Sie fühlt sich benutzt

Weitere Kostenlose Bücher